Im Augenblick stehen wir vor einer der spannendsten Revolutionen im Bildungsbereich seit Humboldt seine Vorstellungen von der allseitigen Ausbildung der Künste veröffentlicht hat. Ich glaube sogar, im Vergleich mit dem, was im Moment passiert, wirken die Revolutionen der 68er gegen den “Muff von 1000 Jahren” wie ein lauer Wind. Denn jetzt geht es nicht gegen die nationalkonservativen und autoritären Dinosaurier-Professoren der 60er Jahre, sondern gegen die Universität als Institution. Bezeichnenderweise sind die Akteure dieser Revolution auch nicht mehr die Studenten, sondern die Professoren selbst.[1]
Die wichtigsten Anzeichen für diese Revolution sind die zahlreichen Internetbasierten Bildungsstartups – vor allem aus den USA: Udacity, Coursera, Khan Academy, ShowMe, LearnZillion, Skillshare oder Rheingold U. Bei Udacity – das ist das Startup, dass im Moment die meiste Aufmerksamkeit auf sich zieht – kann man zum Beispiel von dem Robotik- und KI-Professor an der Stanford University Sebastian Thrun lernen, wie man ein selbst-fahrendes Auto baut (das ist übrigens mal ein großartiges Beispiel für Einheit von Forschung und Lehre). Natürlich nicht, bevor man die sehr inspirierende und abwechslungsreiche Vorlesung von David Evans (University of Virginia) zur Einführung in die Informatik absolviert hat. Danach bietet sich beispielsweise der fortgeschrittene Programmierungskurs von Peter Norvig an, der neben seiner Udacity-Tätigkeit Forschungsleiter bei Google ist.
Diese Fernlehrgänge, die (zumindest von dem was ich gesehen habe) eine sehr hohe Qualität haben und alle Register des Online-Lernens ziehen (Videovorlesungen, Testfragen, Hausaufgaben, Programmierübungen, Sprechstunden, Foren etc.), kommen dem Humboldtschen Ideal viel näher als der gegenwärtige Status Quo der Universitäten: Diese Hochschulpädagogik ist wirklich universell oder sogar kosmopolitisch. Jeder Mensch weltweit kann sich in diese Vorlesungen einschreiben und von den besten Forschern und Lehrern dieser Fächer lernen. Zur Einschreibung müssen weder Abiturzeugnis noch Versicherungsschein mitgebracht werden, sondern nur eine gültige Email-Adresse. Je länger man sich mit dem Thema auseinandersetzt und die Vorlesungen, Übungen und Forendiskussionen verfolgt, desto unsinniger erscheint die Vorstellung eines “Hochschulzugangs”. Den Zugang zu Hochschulbildung nach irgendwelchen Kriterien zu beschränken, ist in etwa so unsinnig und abstoßend, wie die Einschränkung des Zugangs zum World Wide Web.
Klar, die (Fach)hochschulreife als offizielles Einlassdokument für die Hochschule war in einer Zeit vielleicht noch sinnvoll, in der man mit begrenzten Räumen wirtschaften musste. Das hatte aber nicht nur die Folge, dass Menschen, die aus irgendwelchen Gründen kein Zeugnis besitzen, nicht an der universitären Bildung teilnehmen durften (diese aber unabhängig von Bildungsstand mit ihren Steuern finanzieren müssen).[2] Eine weitere Folge war, dass die besten Kurse, Seminare und Vorlesungen immer hoffnungslos überfüllt waren. Gott sei Dank hat uns das Internet von diesen Unzulänglichkeiten erlöst. An den Vorlesungen von Udacity oder Coursera können eine Person oder eine Million Personen teilnehmen. Bildung skaliert endlich! Ein Grund dafür ist auch die Durchsetzung von Englisch als Weltsprache der Wissenschaft.
Die Revolution der Bildung wird dazu führen, dass ich mich nicht mehr für eine Hochschule und einen Studiengang entscheiden muss und dann alle Vorlesungen, Übungen und Seminare inklusive aller Professoren und Dozenten unabhängig von ihren Fähigkeiten in Forschung und Lehre im Komplettpaket kaufen muss, sondern dass ich mir die besten Kurse und die inspirierendsten Lehrer der ganzen Welt heraussuchen kann. Es gibt keine Ausrede mehr, von unmotivierten Beamten auf Lebenszeit den Wissensstand wie er vor 20 Jahren einmal aktuell war, zu lernen. Von den Möglichkeiten der Individualisierung durch intelligente (und semesterunabhängige) Verknüpfung von Kursen und dem Tracking des Lernfortschritts der Studenten ganz zu schweigen.
Das bedeutet schließlich auch den allmählichen Bedeutungsverlust von Zeugnissen. An die Stelle von Bachelor- und Masterzeugnissen, die nicht viel mehr besagen, als dass es eine Person einige Jahre im Universitätsbetrieb ausgehalten hat, treten individuelle Beurteilungen und Scores, die man in den einzelnen Kursen erworben hat. Wahrscheinlich wird dadurch in den nächsten Jahrzehnten ein neuer Markt von Zertifizierungs- und Beurteilungsinstituten entstehen, die verschiedene Zertifikate vergleichen, übersetzen und gegenrechnen. Vielleicht ist die politische Forderung “Hochschulabschluss für alle” gar nicht so kindisch und unrealistisch wie sie im Moment noch klingen mag.
[1] Ich schreibe hier nur über die Hochschullehre. Es gibt aber nur wenige Gründe, warum diese Veränderungen nicht auch die Sekundarbildung erfassen sollten.
[2] Selbstverständlich gibt es auch Möglichkeiten, mit einer beruflichen Bildung zum Hochschulstudium zugelassen zu werden. In Bayern genügt beispielsweise der “Abschluss einer mindestens zweijährige Berufsausbildung in einem zum angestrebten Studiengang fachlich verwandten Bereich” in Verbindung mit einer anschließenden “mindestens dreijährige[n] hauptberufliche[n] Berufspraxis in einem zum angestrebten Studiengang fachlich verwandten Bereich”, der “Absolvierung eines Beratungsgesprächs an der Hochschule” und dem “Bestehen einer besonderen Hochschulprüfung (Hochschulzugangsprüfung)” oder der “nachweislich erfolgreiche[n] Absolvierung eines Probestudiums von mindestens 2 Semestern.” Piece of Cake!