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Wikipedia ist mehr als eine Enzyklopädie

Wikipedia ist eine sehr nützliche Sache. Selbst hartnäckige Internet-Skeptiker sind in der Regel schnell von der Qualität und Inhaltsfülle überzeugt. Dabei ist der interessanteste Aspekt der Wikipedia für mich nicht, dass darin alles mögliche an Wissen gesammelt steht, sondern, wie es hineinkommt.

Jeder, der schonmal einen Artikel angelegt hat, weiß, wie es abläuft, etwas beizutragen. Du schreibst, und spätestens fünf Minuten später entbrennt eine heftige Diskussion, ob das überhaupt relevant genug für die Wikipedia sei. Oft zieht sich die “Löschdiskussion” über die vollen sieben Tage hin, die als Frist für eine Entscheidung gesetzt sind. Oft ist der Ton bis ans hysterische emotional und sogar beleidigend – auf beiden Seiten. Und dann: schließlich gibt es eine Lösung, einen zeitweiligen Konsens. Der Artikel bleibt oder wird gelöscht. Ist das Lemma, das Thema des Artikels grundsätzlich als relevant akzeptiert, läuft die Diskussion – meist weniger dramatisch – nochmals ab, wenn es darum geht, welche Aspekte zu einem Artikel gehören und welche nicht.

Ich habe oft über die schrecklichen Umgangsformen und die diskursive Dominanz einzelner auf Wikipedia geschimpft. Inzwischen bin ich überzeugt, dass es eine derartig starke Tendenz zur Selbstorganisation gibt, dass diese Probleme überwunden werden. Die Löschtrolle sorgen jedenfalls für ein “Survival of the fittest” – nur Artikel mit unbedingtem Überlebenswillen, werden ihre Meme an die nächste Generation vererben.

Es geht um Wahrheit. Es geht darum, was in der Gemeinschaft der Wikipedianer als Wahrheit akzeptiert wird. Wahrheit und nicht Meinung.

Damit ist Wikipedia ein interessantes Modell für eine neue Form Politik. Unter Politik verstehen wir heute das aushandeln von Kompromissen zwischen unterschiedlichen Meinungen. Bei Wikipedia geht es nicht um Kompromisse, sondern um Konsens. Es gibt kein “dealen” – kein “lässt du meinen Artikel stehen, lösch ich deinen auch nicht.” – Die Diskussionen bei Wikipedia sind deshalb so anstrengend, weil es sich um ein “Ringen um Wahrheit” handelt. (Bäh, dieser Jargon der Eigentlichkeit, aber hier passt er imo).

Politik als Wahrheitsprozess scheint uns nicht möglich. Wie sollten die vielen unterschiedlichen Meindungen der Wähler zu einem “Allgemeinen Willen” zusammengefasst werden, außer über Kompromisse? Aber vielleicht gab es bisher nur kein System, keine Struktur, in der eine Politik der Wahrheit möglich gewesen wäre.

Ich glaube, dass ein “politisches Wikipedia” gute Chancen hat, Politik neu zu erfinden. Deshalb glaube ich an den Erfolg von Liquid Democracy.