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Fürchtet euch nicht!

The future is already here — it’s just not very evenly distributed.
(Wiliam Gibson)

Vor zwanzig Jahren hat sich für mich (und fast alle anderen Menschen auf der Erde) die Wirklichkeit verändert. Mit der Öffnung des Internets und dem Front-End WWW wurde aus den vielen, kleinen Online-Netzen, denn BBSes, Foren, den geschlossenen Communities wie CompuServe oder AOL auf einen Schlag ein weltweiter Netz-Raum ohne jede Beschränkung.

Diesen weiten, leeren Raum haben wir besiedelt. Anders als die Siedler, die nach Amerika zogen, haben wir aber nicht einmal die Ureinwohner vertrieben. Wir selbst sind die Ureinwohner des Internet. Wir haben erlebt, wie sich eine Kultur der Freiheit, der Offenheit und Gleichwertigkeit entfaltet hat, mit unglaublicher Vielgestaltigkeit.

Wir haben gelernt, dass es eine Alternative gibt.

Ein Jahrzehnt später war klar: unsere alternative Wirklichkeit hatte begonnen, alle Teile der Gesellschaft zu berühren, wie Sauerteig, den man unter das Mehl mischt, hatte unsere Netzkultur begonnen, alle Bereiche der Wirklichkeit zum Gären zu bringen – Wirtschaft, Medien, Kunst, Wissenschaft, und so fort.

Die Zeit war reif, der Veränderung auch der politischen Kultur eine Struktur zu geben. Die bisherigen Interessensvertretungen waren dafür aus unterschiedlichen Gründen nicht bereit. Die Grünen mit ihrer ideologischen Technologiefeindlichkeit, die FDP mit ihrer Fixierung auf Eigentum, die Linke mit ihrer Feindschaft zum Individualismus – von den “Volksparteien” mit ihrer Angst vor Veränderung und ihrer zwanghaften, nationalen Staatsgläubigkeit gar nicht zu sprechen.

Bewegungen und NGOs wie EEF, CCC, Digiges etc. fehlt ein wesentliches Element: die Bereitschaft, tatsächlich ins bestehende System einzudringen. Am Ende bleibt ihnen dasselbe Mittel, wie anderen Interessensgruppen auch: der Lobbyismus. Genau wie andere Verbände ordnen sie sich bestenfalls in die Reihe der Gutachter und Experten ein, die sich die Abgeordneten für eine Enquette-Kommission einladen.

Die Piratenpartei ist keine Lobbygruppe. Wir sind eine politische Partei. Wir wollen das System hacken und nicht nur am Rande dabei stehen, zuschauen und am Ende nicht besser mit unserer Demokratie umgehen, als die Lobbyisten, gegen die wir doch ankämpfen.

Hacken besteht aus zwei Schritten: erst müssen wir verstehen, wie das System funktioniert, als zweites nehmen wir das System und passen es an. Wir sind gerade bei Schritt 1. Unsere Abgeordneten sitzen seit ganz kurzem in Parlamenten – in Europa, in einigen Landtagen und in einigen Kommunen.

Seit zwei Jahren gibt es einen Streit um unsere “Werte” – oft ist von Kernwerten im Gegensatz z.B. zu unseren sozialpolitischen Zielen die Rede. Aber Werte, unveränderliche Rahmenbedingungen sind doch genau, was wir im Netz überwunden haben. Wir haben gesehen, wie schnell sich die Welt und unsere Kultur verändert. Wir haben gesehen, wie wenig scheinbar ewige Regeln noch gelten, wie schnell die Gatekeeper von früher ihre Macht verlieren, wie schnell den alten Strukturen ihre Deutungsmacht entschwindet.

Liquid Culture – wir fahren nicht mehr auf einem Fluss, der von engen Ufern eingegrenzt dahinfließt. Ufer, die unseren Weg zwar einengen, in eine Bahn lenken, aber an denen wir uns stets orientieren können. Wir fahren auf’s offene Meer. Orientierung geben uns nur noch die Sterne. Unsere Orientierungspunkte müssen viel weiter, viel grundsätzlicher liegen, als irgendwelche Kernwerte, die sich doch nur an technologischen Gegebenheiten entlang hangeln. Unsere Orientierung ist ein durch und durch positives Menschenbild. Die Überzeugung, dass Menschen für sich handeln, Verantwortung übernehmen wollen und nach ihrem Glück streben. In dieser Sicht sind wir tatsächlich radikale Liberale. Diskriminierungsfreiheit und “Netzneutralität” auf allen Plattformen des gesellschaftlichen Lebens sind für uns die Voraussetzung, die Freiheit der einzelnen Person zu ermöglichen. Freiheit ist uns auch die Freiheit von Not und Angst.

Wir haben viele Menschen als Kandidaten auf unseren Listen, denen ich meine Stimme sofort übertragen würde, um mich politisch zu vertreten, Menschen, denen ich inzwischen vollkommen vertraue, dass sie nicht nur meine Interessen in den Parlamenten vertreten, sondern auch meine Wünsche und mein Bild der Zukunft teilen.

Die Zukunft ist bereits da, auch wenn noch nicht jeder sie sehen kann. Fürchtet euch nicht. Kommt einfach mit.