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Universität nach dem Ende der Universität

Ich mach’ mir die Welt widde widde wie sie mir gefällt.
Pippi Langstrumpf

The traditional school was oligarchic
because it was intended for the new generation of the ruling class,
destined to rule in its turn: but it was not oligarchic in its mode of teaching.
Antonio Gramsci, Prison Notebooks

Undurchführbar in dieser Gesellschaftsordnung,
durchführbar in einer anderen, dienen die Vorschläge,
welche doch nur die natürliche Konsequenz
der technischen Entwicklung bilden,
der Propagierung und Formung dieser anderen Ordnung.

Bertolt Brecht, Radiotheorie

 

Vor einiger Zeit habe ich an dieser Stelle unter dem Kampfruf “Schleift die Universitäten” meine Gedanken zur Zukunft der (Hochschul-)Bildung skizziert. Dieser Beitrag hat zum einen in der Zwischenzeit sehr viele spannende Debatten angeregt, zum anderen hat diese Debatte durch den kalten Titelentzug der Bildungsministerin Annette Schavan wieder an Aktualität gewonnen und auf einer eher pauschalen Ebene wird dem gesamten System der Universität die Legitimität abgesprochen. Gleichzeitig geht es sehr sch

Sehr viel spannender an der Diskussion um die Zukunft der Hochschule finde ich die zwei folgenden Fragen:

I. Was ist mit den Naturwissenschaften?

Wenn die Zukunft der Bildung wie bereits beschrieben darin liegt, über das Internet von den besten Professoren und Lehrern der Welt zu lernen, wie werden dann technische Fähigkeiten vermittelt? Wie lernt man zum Beispiel in einem Chemiestudium den sicheren Umgang mit Gefahrenstoffen? Oder ist das Modell der Distance University von Anfang an nur auf geistes- oder sozialwissenschaftliche Fächer anwendbar? Wird damit eine neue Hegemonie der septem artes liberales gegenüber den artes mechanicae begründet?

Tatsächlich, wenn man nur auf die Vorlesungen und Übungen blickt, die auf den Internetlernplattformen angeboten werden, liegt dieser Schluss nahe. Die meisten Kurse stammten zunächst aus dem Umfeld der klassischen freien Künsten, gelehrt wird Mathematik, Musik, Computer Science, Psychologie, Soziologie etc. Aber mittlerweile haben die Naturwissenschaften nachgelegt und auch Angebote aus Physik, Biologie, Chemie oder Medizin findet man dort. Aber es sind jeweils eher klassische Vorlesungsformate, die Wissen vermitteln, vertiefen und prüfen, während praktische Fähigkeiten bis auf wenige Ausnahmen hier nicht vorkommen.

Wer jedoch einmal das Vergnügen hatte, ein Fach wie Chemie zu studieren, weiß, dass das Wissen über Chiralität, Elektrophilie und Orbitale nur einen kleinen Teil der “Ausbildung” bedeutet. Der weit größere und intensivere Teil besteht aus Laborstunden, in denen man mit (scheinbar) einfachen Geräten wie Waage, Pipette und Spatel umzugehen lernt. Wie lässt sich das Handwerkszeug der mechanischen Künste in der Universität nach der Universität vermitteln? Lässt es sich überhaupt noch vermitteln?

Ja. Man muss das Konzept der Distance Education nur etwas weiter denken. Die Vorlesungen und Übungen, die man über das Internet abruft sind nur eines von vier Elementen der zukünftigen Universität:

Der erste Schritt ist die praktische Ausbildung in Form von komprimierten Präsenzkursen, in denen man die notwendigen technischen Fähigkeiten lernt: die Chemikerin lernt den Umgang mit gefährlichen Stoffen, die Archäologin lernt, mit Pinsel und Zahnstocher Knochen freizulegen und die Biologin übt sich in der Polymerase-Kettenreaktion. Parallel dazu wird das theoretische Wissen über die bereits ausführlich beschriebenen Distance-Kurse angeboten.

Zur Vertiefung des Wissens sind ergänzend lokale oder virtuelle Lerngruppen denkbar, die sich über Internetplattformen wie Meetup finden. Viele der Geräte der Laborstudiengänge Chemie oder Biologie sind bereits im Preis so weit gefallen, dass man sich schon im Keller ein Labor einrichten könnte. Für die Fälle, in denen das nicht möglich ist, bieten sich kommunale Hackerspaces an, in denen man sich diese Geräte gemeinsam anschafft und nutzen kann. Ein Beispiel dafür ist das Projekt “Genespace” in New York. Die beiden letzten Elemente sind es dann auch, die einige der sozialen Funktionen des Stundentenlebens, allen voran der Aufbau des eigenen sozialen Netzwerks, übernehmen könnte. Insofern sind Dienste wie Coursera, Udacity oder Khan Academy allein noch keine Lösung, sondern erst in der Kombination: Präsenzkurse + Distancekurse + Lerngruppen + Hackerspaces.

II. Was ist mit der Gerechtigkeit?

Der erste Punkt – die komprimierten Präsenzkurse erfüllen aber auch noch eine weitere wichtige Funktion: Sie garantieren, dass zu Anfang des Studiums zwischen allen Studierenden ein annähernd gleicher Wissens- und Kenntnisstand hergestellt wird. Hier kommt Gramsci als Mahner ins Spiel: In seiner Analyse der faschistischen Bildungsreform unter Mussolinis Bildungsminister Gentile 1923 stößt er auf ein ähnliches Phänomen: Diese Bildungsreform war mitnichten in Richtung Rigorosität und Härte zu denken, sondern wendete sich dezidiert gegen überkommene Formen der Pädagogik wie das Auswendiglernen. Stattdessen sollte eine sehr viel weichere und organischere “aktive” Bildung die zukünftigen Eliten prägen.

Gramsci erkennt darin sofort einen perfiden Exklusionsmechanismus: Die Bildungsreform begünstigt die bestehenden Eliten und legt jungen Menschen, die zum Beispiel aus einer Arbeiterfamilie kommen, unüberwindliche Hindernisse in den Weg. Wer nicht bereits eine akademische Vorbildung hat und durch die strenge Erziehung der Elitefamilien gegangen ist – Stillsitzen, nur Sprechen, wenn man dazu aufgefordert wird, Fleißübungen -, hat auf der neuen Schule keine Chance mehr aufzuholen. Je weniger direkt vermittelt und stattdessen stillschweigend vorausgesetzt wird, desto ungerechter die Bildung. Denn dann hängt alles davon, ab welches Erbe der einzelne in das Bildungssystem bereits mitbringt.

Genau diese Gefahr meint man schnell auch in der Distance Education zu erkennen: Viel wird hier vorausgesetzt – Lerntechniken, Internetzugang oder die Fähigkeit, sich selber zu motivieren – und nur wenige dieser grundlegenden Fähigkeiten werden in den Kursen selbst vermittelt. Deshalb sind die beiden Elemente der komprimierten Einführungskurse – ich denke hier im Fall der Chemie an so etwas wie eine verkürzte Ausbildung zur Chemisch-Technischen Assistenten – und die gemeinschaftlich finanzierten kommunalen Hackerspaces als Gerechtigkeitsbeschleuniger in einer digitalen Universität kaum zu unterschätzen.

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Schleift die Universitäten!

Im Augenblick stehen wir vor einer der spannendsten Revolutionen im Bildungsbereich seit Humboldt seine Vorstellungen von der allseitigen Ausbildung der Künste veröffentlicht hat. Ich glaube sogar, im Vergleich mit dem, was im Moment passiert, wirken die Revolutionen der 68er gegen den “Muff von 1000 Jahren” wie ein lauer Wind. Denn jetzt geht es nicht gegen die nationalkonservativen und autoritären Dinosaurier-Professoren der 60er Jahre, sondern gegen die Universität als Institution. Bezeichnenderweise sind die Akteure dieser Revolution auch nicht mehr die Studenten, sondern die Professoren selbst.[1]

Humboldt reloaded
Humboldt reloaded

Die wichtigsten Anzeichen für diese Revolution sind die zahlreichen Internetbasierten Bildungsstartups – vor allem aus den USA: Udacity, Coursera, Khan Academy, ShowMe, LearnZillion, Skillshare oder Rheingold U. Bei Udacity – das ist das Startup, dass im Moment die meiste Aufmerksamkeit auf sich zieht – kann man zum Beispiel von dem Robotik- und KI-Professor an der Stanford University Sebastian Thrun lernen, wie man ein selbst-fahrendes Auto baut (das ist übrigens mal ein großartiges Beispiel für Einheit von Forschung und Lehre). Natürlich nicht, bevor man die sehr inspirierende und abwechslungsreiche Vorlesung von David Evans (University of Virginia) zur Einführung in die Informatik absolviert hat. Danach bietet sich beispielsweise der fortgeschrittene  Programmierungskurs von Peter Norvig an, der neben seiner Udacity-Tätigkeit Forschungsleiter bei Google ist.

Diese Fernlehrgänge, die (zumindest von dem was ich gesehen habe) eine sehr hohe Qualität haben und alle Register des Online-Lernens ziehen (Videovorlesungen, Testfragen, Hausaufgaben, Programmierübungen, Sprechstunden, Foren etc.), kommen dem Humboldtschen Ideal viel näher als der gegenwärtige Status Quo der Universitäten: Diese Hochschulpädagogik ist wirklich universell oder sogar kosmopolitisch. Jeder Mensch weltweit kann sich in diese Vorlesungen einschreiben und von den besten Forschern und Lehrern dieser Fächer lernen. Zur Einschreibung müssen weder Abiturzeugnis noch Versicherungsschein mitgebracht werden, sondern nur eine gültige Email-Adresse. Je länger man sich mit dem Thema auseinandersetzt und die Vorlesungen, Übungen und Forendiskussionen verfolgt, desto unsinniger erscheint die Vorstellung eines “Hochschulzugangs”. Den Zugang zu Hochschulbildung nach irgendwelchen Kriterien zu beschränken, ist in etwa so unsinnig und abstoßend, wie die Einschränkung des Zugangs zum World Wide Web.

Klar, die (Fach)hochschulreife als offizielles Einlassdokument für die Hochschule war in einer Zeit vielleicht noch sinnvoll, in der man mit begrenzten Räumen wirtschaften musste. Das hatte aber nicht nur die Folge, dass Menschen, die aus irgendwelchen Gründen kein Zeugnis besitzen, nicht an der universitären Bildung teilnehmen durften (diese aber unabhängig von Bildungsstand mit ihren Steuern finanzieren müssen).[2] Eine weitere Folge war, dass die besten Kurse, Seminare und Vorlesungen immer hoffnungslos überfüllt waren. Gott sei Dank hat uns das Internet von diesen Unzulänglichkeiten erlöst. An den Vorlesungen von Udacity oder Coursera können eine Person oder eine Million Personen teilnehmen. Bildung skaliert endlich! Ein Grund dafür ist auch die Durchsetzung von Englisch als Weltsprache der Wissenschaft.

Die Revolution der Bildung wird dazu führen, dass ich mich nicht mehr für eine Hochschule und einen Studiengang entscheiden muss und dann alle Vorlesungen, Übungen und Seminare inklusive aller Professoren und Dozenten unabhängig von ihren Fähigkeiten in Forschung und Lehre im Komplettpaket kaufen muss, sondern dass ich mir die besten Kurse und die inspirierendsten Lehrer der ganzen Welt heraussuchen kann. Es gibt keine Ausrede mehr, von unmotivierten Beamten auf Lebenszeit den Wissensstand wie er vor 20 Jahren einmal aktuell war, zu lernen. Von den Möglichkeiten der Individualisierung durch intelligente (und semesterunabhängige) Verknüpfung von Kursen und dem Tracking des Lernfortschritts der Studenten ganz zu schweigen.

Das bedeutet schließlich auch den allmählichen Bedeutungsverlust von Zeugnissen. An die Stelle von Bachelor- und Masterzeugnissen, die nicht viel mehr besagen, als dass es eine Person einige Jahre im Universitätsbetrieb ausgehalten hat, treten individuelle Beurteilungen und Scores, die man in den einzelnen Kursen erworben hat. Wahrscheinlich wird dadurch in den nächsten Jahrzehnten ein neuer Markt von Zertifizierungs- und Beurteilungsinstituten entstehen, die verschiedene Zertifikate vergleichen, übersetzen und gegenrechnen. Vielleicht ist die politische Forderung “Hochschulabschluss für alle” gar nicht so kindisch und unrealistisch wie sie im Moment noch klingen mag.

[1] Ich schreibe hier nur über die Hochschullehre. Es gibt aber nur wenige Gründe, warum diese Veränderungen nicht auch die Sekundarbildung erfassen sollten.

[2] Selbstverständlich gibt es auch Möglichkeiten, mit einer beruflichen Bildung zum Hochschulstudium zugelassen zu werden. In Bayern genügt beispielsweise der “Abschluss einer mindestens zweijährige Berufsausbildung in einem zum angestrebten Studiengang fachlich verwandten Bereich” in Verbindung mit einer anschließenden “mindestens dreijährige[n] hauptberufliche[n] Berufspraxis in einem zum angestrebten Studiengang fachlich verwandten Bereich”, der “Absolvierung eines Beratungsgesprächs an der Hochschule” und dem “Bestehen einer besonderen Hochschulprüfung (Hochschulzugangsprüfung)” oder der “nachweislich erfolgreiche[n] Absolvierung eines Probestudiums von mindestens 2 Semestern.” Piece of Cake!