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Proletarier aller Netze

“Das Proletariat ist diejenige Klasse der Gesellschaft, welche ihren Lebensunterhalt einzig und allein aus dem Verkauf ihrer Arbeit und nicht aus dem Profit irgendeines Kapitals zieht; deren Wohl und Wehe, deren Leben und Tod, deren ganze Existenz von der Nachfrage nach Arbeit, also von dem Wechsel der guten und schlechten Geschäftszeiten, von den Schwankungen einer zügellosen Konkurrenz abhängt.” (Friedrich Engels; MEW 4, S. 363)

Menschen, die nichts besitzen als ihre Arbeitskraft, und die gezungen sind, ihre Arbeitskraft wie eine Ware zu handeln sind, was Marx und Engels als Proletarier bezeichnen. Auf dieser Perspektive und dem Erkennen, wie es um die abhängigen Arbeiter zu Mitte des 19. Jahrhunderts bestellt war, entwickelte sich die Arbeiterbewegung. Durch die Gewerkschaften und den organisierten Arbeitskampf konnten sich die Arbeiter schließlich aus dieser Abhängigkeit einigermaßen emanzipieren. Heute haben wir die Grundlagen für den Arbeitskampf sogar in unserer Verfassung, wir haben gesetzlich geschützte Betriebsräte, Kündigungsschutz und weitreichenden Arbeitsschutz.

Diesen Fort-Schritt – eine Gruppe von Menschen wird ausgebeutet, wehrt sich und befreit sich schließlich – beschreiben Marx und Engels in ihrer Theorie des historischen Materialismus als Klassenkampf:

Die wirtschaftlichen Bedingungen verändern sich, vor allem durch neue Technologien. Dadurch entstehen immer wieder neue Gruppen von Menschen, die wieder “ohne Kapital” dastehen und ungeschützt ihre Arbeitskraft zu Markte tragen.

Daher bleibt es leider nicht dabei, dass “die Arbeiter” sich befreien und danach automatisch Gerechtigkeit für alle eintritt; wie schon bei Marx/Engels läuft der historische Materialismus dynamisch weiter. Während die fest angestellten Arbeiter ihre Rechte mehr und mehr erfolgreich verteidigen konnten, wurde die Lage für die Tagelöhner, die Ungelernten und vor allem für Migranten oft noch schlimmer. Die klassenbewussten, stolzen Proletarier klassifizierten sie als “Lumpenproletariat” ab.

Keine Stimme ertönt, außer der Stimme der Herrschenden.
(Bertold Brecht, Lob der Dialektik)

Über die Lost Generation der Netzkultur habe ich schon mein Klagelied gesungen. Vor allem diejenigen, die in der digitalen Welt kreativ arbeiten, leben sehr häufig in prekären Situationen. Der Spott über die “Digitale Boheme” trifft die Lage, wenn auch mit zynischen Worten: “Have Laptop – will work.” ist das passende Papp-Schild, mit dem die “Generation Y” für ihre nackte Arbeitskraft wirbt. Und genau die Errungenschaften, die die “alte Klasse” für sich zur wirtschaftlichen Absicherung erstritten hatte – Urheberrecht, GEMA und Verwertungsgesellschaften – sind in ihrer heutigen Form für die Netz-Generation Hürden, die sie nur noch weiter von der digitalen Wertschöpfung ausschließen. Auch die auf abhängige Erwerbsarbeit ausgerichteten Sozialgesetze, Kranken- und Rentenversicherung oder Berufsstandesregeln müssen den – freiwillig oder unfreiwillig – viel ungebundeneren Arbeitern der Netz-Welt oft eher als Besitzstandswahrung “der Angestellten” erscheinen, als dass sie durch diese in ihrer Situation unterstützt würden.

Eine neue Arbeiterpartei!

Ich glaube, dass die Piratenpartei die Aufgabe hat, für dieses neue, “digitale Proletariat” die Rolle einzunehmen, welche die Sozialdemokraten für die “klassischen” Arbeiter und Angestellten spielt. Ich bin überzeugt, dass die Interessensgegensätze der alten mit den neuen Proletariern es auf jeden Fall rechtfertigen, dass es mehrere Parteien bleiben. Die Piraten machen die SPD wie auch die Grünen nicht überflüssig – im Gegenteil: sie haben die Chance, komplementär zu den bestehenden sozial-orientierten politischen Parteien, einen weiteren Aspekt sozialen Engagements hinzuzufügen. Viele Positionen und Meinungen in der Piratenpartei werden dann helfen, diesen Gruppen von Menschen eine politische Stimme zu geben, die ansonsten ungehört blieben.

Wer seine Lage erkannt hat, wie soll der aufzuhalten sein?
(Bertold Brecht, Lob der Dialektik)

15 replies on “Proletarier aller Netze”

BGE!
mehr braucht’s nicht, was dann erarbeitet wird, gibt Komfort

denke ich grundsätzlich auch, ist aber kein Ding, wo man einfach den Schalter umlegt, sondern das wird noch viel Arbeit!

So ähnlich hat das Juli Zeh in einem Beitrag für die “Berliner Republik” auch mal formuliert; Grundtenor: “die Menschen sind jetzt anders”. Was wollte sie damit sagen? Leute, die früher ganz normal Angestellte geworden wären, leben heute den (Alp)Traum der “Digitalen Boheme”. Manche wünschen sich insgeheim eine Festanstellung, würden das aber öffentlich nicht zugeben. Die Generaion Müntefering hat diese neue Problematik nicht erkannt, sondern blieb verhaftet im NAV-Denken (Normalarbeitsverhältnis).

Deshalb: Ja, insbesondere die SPD hat eine Lücke gelassen in diesem Bereich. Und damit hat sie auch ein Stück weit ihre Wurzeln vergessen, denn die großen Sozialdemokraten der ersten Jahre waren nicht selten kleine Selbstständige wie der Sattler Friedrich Ebert, ganz ähnlich den kleinen Solo-Selbstständigen von heute.

Die Piraten haben deshalb eine Chance, diese Lücke zu füllen – aber ich habe das Gefühl, dass diese Chance mit BGE-Träumen leichtfertig verspielt wird. Und anscheinend hat die SPD erkannt, dass sie hier einen wichtigen Wachstumsbereich ignoriert hat; nach meinem Eindruck ist die Problematik der Solo-Selbstständigen in der SPD heute anerkannt und wird bearbeitet, seit 2009 hat sich hier einiges getan. Vgl. https://www.spd.de/aktuelles/Pressemitteilungen/75934/20120911_rentenkonzept_staerkt_selbststaendigkeit.html

Ob die Piraten zusätzlich zu SPD und Grünen “gebraucht” werden, weiß ich nicht. Ich weiß allgemein nicht, wie man die Wertung “gebraucht werden” bei Parteien rechtfertigen kann; entweder eine Partei wird gewählt oder eben nicht. Objektive Wahrheiten gibt es nicht, wenn eine Partei keine Stimmen erzielen kann, ist sie unfähig, und wenn sie noch so vermeintlich clevere Ideen hat.

Nachtrag:

“BGE!
mehr braucht’s nicht, was dann erarbeitet wird, gibt Komfort”

Solche Kommentare meine ich. Völlig sinnlos und ohne jegliche Reflektion. Dass nicht alle Menschen die Bildung und den Hintergrund eines Johannes Ponader haben, für den ein BGE ganz sicher eine tolle Sache wäre, sondern dass sich die meisten Menschen _über ihre Arbeit_ definieren und gebraucht werden wollen, wird damit völlig ignoriert. Wenn das BGE-Geschrei alles ist, was Piraten auf die prekäre Situation Solo-Selbstständiger einfällt, dann werden sie scheitern. Und das ist dann auch nicht schade.

@ Christian: zu deinem letzten Kommentar habe ich eine andere Meinung. Ich glaube, wir brauchen gesellschafte Solidarität unabhängig davon, ob Menschen sich in die bisherigen Strukturen abhängiger Erwerbsarbeit zwängen lassen (hab ich schon öfter gesagt, u.a. hier).

Zum ersten Kommentar: genau das wollte ich sagen. Wenn es den Piraten gelingt, diese Position einzunehmen, kann sich Orange neben Rot und Grün als Farbe im politischen Spektrum etablieren.

“Ich glaube, wir brauchen gesellschafte Solidarität unabhängig davon, ob Menschen sich in die bisherigen Strukturen abhängiger Erwerbsarbeit zwängen lassen”

Ja, das glaube ich auch. Die Antwort darauf ist aber kein “BGE” für alle, sondern neue Lösungen für individuelle Persönlichkeiten. Bspw. eine Ausweitung der Künstlersozialversicherung, mehr Stipendien für Autoren, etc. pp.

Das ist eben der Unterschied zwischen Top-Down (Stipendien, die schließlich immer von irgendwem vergeben werden) oder KSK (die nur funktioniert, wenn die Künstler nachweißlich ihre Werke verkaufen und dazu irgendwo eingebunden sind – BBK, ein Galerie, am Theater engagiert …) einerseits und Bottom-Up (die Gesellschaft sichert grundsätzlich jedem ein Leben in Würde, gleichzeitig werden Subventionsstrukturen abgebaut).

in dieser Textsammlung der Friedrich-Ebert-Stiftung dominiert die Vorstellung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern – das trifft zwar häufig auch bei Werk- oder Dienstverträgen zu (wo die Auftraggeber die Rolle der Arbeitgeber übernehmen), ist aber bei kreativer Arbeit, bei Kunst und Publizistik heute nicht mehr haltbar: wer ist der Arbeitgeber meines Blogs?

Die Arbeit in den “neuen” Berufen einfach in die alten Raster zu pressen und, was nicht passt als Auswüchse von Ausbeutung und nicht als Folge eines allgemeinen Wandels zu sehen, ist genau, was ich meine.

Während ich hier (an meinem Küchentisch sitzend) schreibe, frage ich mich, wie mich die Bemühungen zu Ergonomie und Arbeitsschutz, von denen ich in dem Papier lese, je erreichen sollen.

Wenn ich lese, dass wir angeblich Regeln für “Bring your own device” brauchen, d. h. dass es (dann auch als Freelancer) nur noch unter Auflagen möglich sein soll, auf eigenem Gerät zu arbeiten, wenn die Auftraggeber, wie im Text gefordert, also Teile der Kosten, wie Gewährleistung, Abnutzung etc. tragen sollen, werden sie Standards beim Arbeitsgerät verlangen können, was im besten Fall nur eine weitere Kreativitätsbremse darstellt, wahrscheinlich aber – wie oben beschrieben – Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen nur noch weiter vom Arbeitsmarkt ausschließt. (Nur als ein Beispiel aus dem Papier).

Damit kein Missverständnis entsteht: ich halte hohe Standards beim Arbeitsschutz für sehr wichtig und selbstverständlich brauchen wir Regeln für Telearbeit und andere neue Formen der durch Arbeitsrecht regelbaren abhängigen Erwerbsarbeit. Als Reaktion auf den kulturellen, gesellschaftlichen und letztlich wirtschaftlichen Wandel sind die Lösungsvorschläge, die ich in dem Text finde, aber nach meiner Meinung nicht passend.

Das ist übigens genau das Problem: Eine im Prinzip sinnvolle Debatte wird nach nur wenigen Beiträgen zur x-ten Pro-Contra-BGE-Diskussion, ohne jeden Erkenntnisgewinn. Genau so werden es die Piraten nicht schaffen, die Menschen zu vertreten, für die sie da sein wollen.

(ad “Das ist übrigens genau das Problem …”): da bin ich völlig deiner Meinung! Worum es mir geht, ist hier gar nicht das BGE, sondern etwas anderes: Wie muss eine politische Vertretung dieser Menschen in sogenannten “prekären” Arbeitsverhältnissen oder der “Digitalen Boheme” aussehen? Da ist wirtschaftliche Grundssicherung ein Teil; aber davor müssen einige Fragen geklärt werden, wie z.B. Was ist die Rolle/der Wert von (Erwerbs-)Arbeit in der gesellschaftlichen Rolle von Menschen? In welchem Verhältnis steht Wertschöpfung für einen Arbeit/Auftraggeber im klassischen Sinn zur gesellschaftlichen Wertschöpfung? Welche Rechte müssen im (bialteralen) Verhältnis zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer geregelt werden und welche Rechte muss die Gesellschaft davon unabhängig garantieren? etc. etc.

Du sprichst mir aus der Seele.
Nach dem ich jetzt veschiedene intensive Kontakte mit bayrischen Piraten hatte, sehe ich diese, auch nach dem lptby leider verstärkt in Richtung CSU sich entwickeln.
Auch die Wiederwahl Körners war für mich zwar erwartet aber enttäuschend. Ich hätte Dich als Vorstand gewollt aus genau den Gründen die Du genannt hast. Aber der harte Kern will halt einen”Strauss”Typen, an Hund hoit!
Habe jetzt doch schon viel für die Partei an der Basis gearbeitet,mit viel Herzblut und merke wie mein Elan schwindet. Ich kann schon länger in meinem Umfeld nicht mehr überzeugend werben. Die offenheit der meisten Bayern bzw. den harten Kern ist durch den Tellerrand begrenzt.
Für mich selbst ist es äußerst fraglich ob ich die Partei in Bayern überhaupt wählen kann.

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