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Liquid Affirmative Action

You do not wipe away the scars of centuries by saying: ‘now, you are free to go where you want, do as you desire, and choose the leaders you please.’ Lyndon B. Johnson

Am Freitag fand die Auftaktveranstaltung “keinzelfall – Diskriminierung geht uns Alle an!” der Veranstaltungsreihe zur Sensibilisierung bezüglich diskriminierender Ideologien und Praxen innerhalb der Piratenpartei statt. Diskriminierungsfreiheit scheint ein Thema, mit dem sich die Piraten überraschend schwer tun. Überraschend deswegen, weil die Partei schließlich vom denkbar offensten Menschenbild ausgeht: keine Kategorie, in die Menschen üblicherweise eingezwengt werden, wird von den Piraten akzeptiert – deshalb geben wir auch unser Geschlecht nicht an, wenn wir Mitglied werden.

Ich bin persönlich begeistert von einem so freien Bild des Menschen – Liquid Identity ist nicht umsonst eine der Forderungen in unserer Declaration of Liquid Culture.

Nichtsdestotrotz stimmt unverändert, was US Präsident Johnson in seiner berühmten Rede “To fulfill these rights” von 1965 anführt: wir können nicht einfach sagen “So, jetzt ist Schluss mit Sexismus” – und dann sind alle Strukturen plötzlich machtlos, die bisher wirkmächtig genug waren, das System über Jahrhunderte stabil zu halten.

Basisdemokratie – wenn alle einzeln für sich sprechen – kann scheitern, wenn bestehende Assymetrie hineingetragen wird.

So zumindest habe ich mir aus den klugen Gedanken von Matthias Mergl auf der keinzelfall-Veranstaltung mitgeschrieben.

Aber wie können wir diesen Widerspruch auflösen – einerseits wollen wir die Konstrukte Gender, Kindheit, ethnische Herkunft etc. unbedingt überwinden – andererseits muss uns klar sein, dass ein naives “Wir sind alle Post-Constructivist” und deshalb sind wir komplett frei von den Einflüssen diskiminatorischer, struktureller und kultureller Gewalt, eben genau die bestehenden Ungleichheiten in unsere Gemeinschaft hineinträgt.

Beim anschließenden Bier ist UrbanP1rate, Carridwen und mir eine Idee gekommen, die sich imo lohnt, weiterzudenken: Liquid Affirmative Action.

Der Gedanke zur Liquid Affirmative Action ist ganz einfach: ja, wir brauchen eine Quote, nein, wir brauchen keine Konstrukte. Wir starten eine Liste mit Kategorien “Männer”, “Frauen”, “Neutral”, etc. Jeder Pirat trägt sich selbst in die Kategorie ein, für die es sich entscheidet (geschickt, wie ich hier das Neutrum beim Pronomen einführe, nicht wahr?). Wenn keine Kategorie passt, wird eine neue aufgemacht. Ich halte zB Kategorien wie “Piraten, die in keine Kategorie eingeteilt werden wollen” oder “Piraten, die einfach in irgendeine Kategorie eingeteilt werden wollen” für völlig legitim. Wir hatten solche Selbsteinteilung schließlich schon öfters. Und dann Quotieren wir nach der Größe der einzelnen Kategorien.

Mögliche Einwände:

  • Total kindisch – ja, genau deshalb ist es imo eine gute Idee (s. “Als ich ein Kind war”)
  • es wird viel zuviele Kategorien geben – dann sollten wir über geeignete Tools wie z.B. Liquid Feedback über die Neuanlage einer Kategorie abstimmen
  • Die Schweigespirale – ja, das ist, denke ich, der wichtigste Punkt; ich habe aber die Hoffnung, dass wir genügend Leute finden, die sich zu der einen oder anderen Kategorie bekennen, dass die Spirale durchbrochen wird.
  • Und jetzt?
    Jetzt sollten wir testen, ob es nicht vielleicht überraschend einfach ist und gut funktioniert, wenn wir von den starren, aus einem diskriminierenden Menschenbild geborenen Kategorien der üblichen Quotenregelungen herauskommen und unseren eigenen, piratischen Weg zu diskriminierungsfreien politischen Partizipation finden. Wir wollen, dass jeder Mensch für sich spricht, sich nicht als “seinesgleichen” vertreten lassen muss. Aber wir wollen auch, dass wir uns von den alten Ungleichheiten befreien und das werden wir nicht schaffen, wenn wir sie einfach ausblenden.

    Darum ist es Zeit für Liquid Affirmative Action!

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    Mainstream

    Wir wollen die Freiheit der Welt,
    und Straßen aus Zucker,
    Schneien soll´s Geld und
    Ab und zu Futter,
    Für Kanonen aus Plastik auf Panzern aus Watte,
    In 1000 Jahren sind wir Klassik
    (Frittenbude, 2008)

    Do not follow where the path may lead.
    Go instead where there is no path and leave a trail.

    Harold R. McAlindon

    Wo ist der Mainstream in der Kultur? In der Politik? Oder können wir in einer immer fragmentierteren Gesellschaft gar nicht mehr von dem einen Mainstream sprechen, der die Mitte der Kultur definiert? Je länger man darüber nachdenkt, desto schöner ist die Metapher des Mainstreams. Sie denkt Kultur schon in den 1960er Jahren nicht mehr als Schichten (Hochkultur vs. Volkskultur), sondern als Raum der Ströme, wie wir das in unserer Liquid-Culture-Erklärung ebenfalls fordern.

    Politisch war der Mainstream ein Kampfbegriff. Die Mitte der Gesellschaft war ein privilegierter Ort, zu dem nicht jeder einen Zugang hat. Die Lösung hieß sehr schnell: Mainstreaming. Ziel war es, mit rechtlichen und politischen Entscheidungen dafür zu sorgen, dass zum Beispiel jeder denselben Zugang zum Bildungssystem oder zum Arbeitsmarkt besitzt. Mainstreaming ist in dieser Bedeutung dasselbe wie Antidiskriminierung.

    Gleichzeitig war der Mainstream aber auch – in umgekehrter Polarität – ein kultureller Mainstream. Der breite Strom des kulturellen Minimalkonsenses ist für die Avantgarde ein lebensfeindlicher Ort. Sie ist radikal und extrem. Doch beide Positionen drohen von dem Mainstream weggespült zu werden, der sein Flussbett immer tiefer in die Kultur fräst und immer breiter anschwillt. Aus Sicht der Künstler ist die Flutwelle des Mainstreams eine Gefahr, denn alles was nicht fest verwurzelt, also radikal, ist, verleibt sich der Strom ein. Diese ständige Bedrohung hat Teufelsblume in folgendem Tweet auf den Punkt gebracht:

    Damit kommen wir zu einer neuen Formulierung des Filter-Bubble-Phänomens: Die Informations- und Nachrichtenstreams, die wir auf Twitter, Facebook oder Flipboard lesen, machen den gesellschaftlichen Mainstream unsichtbar. Wir verlieren ein Gefühl dafür, wo der Mainstream gerade fließt und welche kulturellen Strömungen er sich schon eingemeindet hat. Sind wir radikal? Sind wir extrem? Sind wir vorne oder mittendrin? Die Timeline schweigt zu diesen Fragen. Ob wir in unserer Blase auf einem schmalen Wildbach oder einem breiten Strom schwimmen, ist von innen nicht mehr erkennbar. Damit verschwindet aber auch die Fähigkeit, die Ausdehnung unserer Kultur abzumessen, die ja vor allem durch die extremen und radikalen Positionen markiert wurden (Plus Ultra!)

    Früher hat man den Massenmedien, dem Massenkonsum und der Massendemokratie einen objektiven Blick auf die Mehrheitsverhältnisse zugesprochen. Aus dieser neutralen Perspektive konnte man erkennen, welche Strömungen schon breit geworden sind, um sie entweder zu vereinnahmen oder in die entgegengesetzte Richtung zu flüchten. So sieht die (junge) Geschichte des Mainstreams aus, wenn man den Google-Buchcorpus auswertet:

    Der Mainstream hatte um die Jahrtausendwende seinen Höhepunkt. Seitdem geht es bergab. Die Filterbubble könnte sich hier als eine gefährliche Störung unseres kulturellen oder politischen Kompasses entpuppen. Aber: Sich-treiben-Lassen ist das Gegenteil von Navigation geschweige denn Gestaltung.

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    Plus Ultra!

    “Bis hierher sollst du kommen und nicht weiter; hier sollen sich legen deine stolzen Wellen!” Hiob 38,11

    “Man muß noch Chaos in sich tragen, um einen tanzenden Stern gebären zu können” Nietzsche, Zarathustra


    Eine Utopie beschreibt einen Zustand oder Ort, den es (noch) nicht gibt. Der Utopist arbeitet oder kämpft dafür, diesen Zustand zu erreichen. Ob religiös oder ideologisch – am Ende der Mühe steht die Belohnung durch Eintritt in die Utopie.

    “Plus Ultra!” – “Immer weiter”. Kaiser Karl V. hatte sich dieses Motto gegeben und in seinem Wappen als Spruchband um die Säulen des Herkules gewickelt, von Alters her das Symbol für das Ende der Welt – wer darüber hinaus segelte, würde unweigerlich über den Rand der Weltscheibe in die Tiefe stürtzen. Für Karl war die Welt rund und nirgends zu Ende. Das europäische Zeitalter der Entdeckungen hatte begonnen.

    Non-plus-ultra – es geht nicht besser. Egal ob angebliche Realisten (“das machen wir erst, wenn die Finanzierung 100% klar ist”) oder Utopisten (“Gesellschaft ohne Zwang am Ende des Klassenkampfes”) – die Welt ist eine Scheibe, und wer sich über den Rand begibt, fällt aus dem System heraus.

    “Mehr Chaos für mehr Gedanken und mehr Möglichkeiten. Politik der Möglichkeiten, nicht des non plus ultra.” ruft Christina Herlitschka eine neue politische Kultur aus. Schluss mit der Sicherheit von Parteiprogrammen, Schluss mit einem Lagerdenken, das viel zu viele in der Politik wie auf Schienen einem vermeintlichen Ziel entgegen fahren lässt, statt wie in einem Schiff nach allen Seiten beweglich zu bleiben. “Was hat es mit den Parteien, dass sie sich aufführen, wie Fußballmannschaften, die gegen einander gewinnen wollen? (Medien auch so.)” klagt Marina Weisband über dieses Denken in Fesseln.

    “Die Piraten sind “die Partei des unendlichen Reichtums”. Die digitale Welt ist durch die unendliche Kopierbarkeit charakterisiert. Die Piraten scheren sich bislang nicht um ökonomische Fragen.
    Bei den Wahlen zum Bundesvorstand war es möglich, bei jedem Kandidaten mit “ja” zu stimmen, es waren also mehr Stimmen möglich als Plätze zu vergeben waren.

    Angesichts der sich gerade aktuell verschärfenden ökonomischen Krisen ist zu bezweifeln, ob sich mit einer solchen Ausrichtung langfristig Wählerstimmen binden lassen.” Julia Seeliger

    Der unendliche Reichtum bedeutet, sich völlige Freiheit im Denken leisten zu können (was nicht automatisch heißt dass die Leute diese Freiheit auch tatsächlich nutzen). Natürlich ist es naiv, die Rahmenbedingungen einfach zu ignorieren. Aber anders als Julia Seeliger glaube ich, dass es viele Wähler gibt, die sich so eine infantile Politik wünschen, die nicht zuletzt durch ihre unprofessionelle Art in maximalem Kontrast zur etablierten politischen Kultur steht.

    “Die Vorhandenheitsphilister, mit jenen Brettern vor dem Kopf, die nicht die Welt bedeuten” Ernst Bloch

    In unserer Declaration of Liquid Culture vergleichen wir unsere Zeit mit einer Flussmündung, die unser Schiff ins offene Meer entlässt. “Plus ultra!”, wir segeln über den Rand der kartierten Welt hinaus. Kein Ziel vor Augen, aber auch keine Angst vor dem Absturtz ins Bodenlose. Das ist die politische Kultur, die ich mir wünsche.

    Die Partei des unendlichen Reichtums stelle ich mir vor, wie die ziegengestaltige Nymphe Amalthea, die mit ihrem früchtegefüllten Horn den Jupiter ernährte, bis er stark genug war, Saturn vom Thron zu stürtzen:

    Sed fregit in arbore cornu
    truncaque dimidia parte decoris erat.
    sustulit hoc nymphe cinxitque recentibus herbis
    et plenum pomis ad Iovis ora tulit.

    Aber sie brach ein Horn an einem Ast
    und war um die Hälfte ihre Zauberkraft beschnitten.
    Die Nymphe nahm dieses und umwickelte es in frische Kräuter
    und trug es zu Jupiter, gefüllt mit Früchten. Ovid, Fasti

    Weiter lesen:

    Lost Generation
    Offenes politisches Handeln

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    Wir halten uns ans Grundgesetz?

    Artikel 16a (1) Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.
    (2) Auf Absatz 1 kann sich nicht berufen, wer…

    “Wir halten uns ans Grundgesetz, da sind wir konservativ.” steht auf einem Plakatmotiv der Piratenpartei. Ich frage mich, ob das stimmt. Und ich frage mich, wenn es denn überhaupt stimmt, ob ich es gut finde!

    1993 hatten Union und SPD in einem – seit der Einführung des “Notstandsartikel” 115a ins Grundgesetz – beispiellosen Schulterschluss das Recht auf Asyl in Deutschland de facto abgeschafft. Die zugefügten Absätze machen es für Verfolgte so gut wie unmöglich, nach Deutschland zu gelangen, ohne durch einen “sicheren Drittstaat” zu reisen.

    Aber selbst ohne diese Verstümmelung bleibt Artikel 16a weit hinter der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zurück, wo es schließlich in Artikel 14 heißt “Jeder hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen.” – also nicht nur politische Verfolgte!

    Es gibt also Grund genug, sich Artikel für Artikel einmal genauer anzusehen. Ob Post- und Fernmeldegeheimnis (Art 10) oder die Unverletzlichkeit der Wohnung (Art 13) – in vielen Fällen sind die Grundrechte im Laufe der Jahrzehnte zum Teil ganz wesentlich Eingeschränkt worden, wenn sie nicht (wie das Beispiel Asylrecht zeigt) von Anfang an ungenügend gewesen sind.

    Es sind nicht nur die Menschen- und Bürgerrechte – auch sonst gibt es viele Punkte, die mir zumindest Diskussionswürdig erscheinen. Etwa die Trennung von Staat und Kirche. Viele fordern sie heute vollmundig, ohne darüber nachzudenken, dass die Kirchen in Deutschland nach unserer Verfassung im Rang von öffentlich-rechtlichen Körperschaften stehen. Ob Religionsunterricht, ob Kirchensteuer – sogar der Sonntag als gesetzlicher Feiertag ist Teil unserer Verfassung, und obwohl ich als Katholik den Kirchen sicher nicht übertrieben kritisch gegenüber stehe, wäre mir ein “gib dem Kaiser was des Kaisers ist und Gott was Gottes ist” persönlich lieber:

    Artikel 7 (3) Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt.

    Artikel 137 …Die Religionsgesellschaften bleiben Körperschaften des öffentlichen Rechtes, soweit sie solche bisher waren. Anderen Religionsgesellschaften sind auf ihren Antrag gleiche Rechte zu gewähren, wenn sie durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten. Schließen sich mehrere derartige öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften zu einem Verbande zusammen, so ist auch dieser Verband eine öffentlich-rechtliche Körperschaft.
    Die Religionsgesellschaften, welche Körperschaften des öffentlichen Rechtes sind, sind berechtigt, auf Grund der bürgerlichen Steuerlisten nach Maßgabe der landesrechtlichen Bestimmungen Steuern zu erheben.

    Artikel 139 Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt.

    Also: es ist nett, Grundgesetze zu verschenken. Die Leute, die ihr Exemplar verschmissen haben, das sie (wie jeder in diesem Land) in der Schule bekommen hatten – oder zu faul sind, sich eines kostenlos bei der Bundeszentrale für politische Bildung zu bestellen, die werden sich freuen. Aber programmatisch: bitte! Da bin ich eher beim Wahlkampf 2009:

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    Sharing is Caring

    Kultur ist auch immer eine Sprache, mit denen sehr tiefgehende empathische Werte vermittelt werden und zwar über Gesellschaft, Kultur und Sprache hinausgehend, es ist die Sprache der Welt, die jeder Mensch versteht. Das baut Barrieren ab und verbindet die Menschen, es erlaubt unmittelbar mit Menschen überall auf der Welt in Kontakt zu treten. Dies verarmt und es ist ein großer Verlust, wenn die Menschen sich nicht mehr verstehen in ihren Gefühlen. „Und sie kennen die Worte nicht mehr…“ Elfriede Jelinek.

    sagt Johannes Thon in seinem lesenswerten Interview mit der Rheinpost.

    Kultur kommt von kultivieren: dem Ackerbau und der Gartenpflege. Kultur pflegt das Zusammenleben von Menschen in Gemeinschaften. Unsere Kultiviertheit macht es uns möglich, dass wir trotz großer Unterschiede in der Regel pfleglich mit einander umgehen. Kultur schafft einen gemeinsamen Gedanken- und Gefühlsraum, schafft Identität über Nicht-Identisches.

    Eine gemeinsame Kultur lebt vom Austausch. Austausch bedeutet, die Symbole der Gemeinsamkeit zu taschen. Dies können Bilder, Gedichte oder Lieder und Musikstücke sein. Dieses Tauschen von Kultur bedeutet: ich gebe etwas, ich bekomme etwas in gleicher Art. Wir erleben dieses Geben und Nehmen täglich auf Twitter – jeder gibt, was er findet und empfindet und bekommt von den anderen deren Erzählungen zurück.

    Kultur als Ware steht zu diesem freien Austausch genau gegenüber. Die Kultur verliert die Funktion des Verbindenden und wird zum Statussymbol, zu etwas, dass ich mir leisten können muss. Kultur wird nicht mehr geteilt, sondern produziert; passend spricht man auch von der Kulturindustrie. Kultur dient jetzt nicht mehr, um Gemeinsamkeit herzustellen, sondern zur Abgrenzung. Wir erleben die grotesken Auswüchse der ökonomisierung von Kultur, wenn von Kindern für das Singen von Liedern plötzlich Gebühren zu zahlen sind.

    Kultur als Grundlage für Empathie ist, was Johannes Thon uns in seinem Interview beschreibt. Sharing is caring – gehen wir wieder pfleglicher miteinander um!

    Weiterlesen:
    Die Kulturindustrie
    Memetic Turn

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    Schleift die Universitäten!

    Im Augenblick stehen wir vor einer der spannendsten Revolutionen im Bildungsbereich seit Humboldt seine Vorstellungen von der allseitigen Ausbildung der Künste veröffentlicht hat. Ich glaube sogar, im Vergleich mit dem, was im Moment passiert, wirken die Revolutionen der 68er gegen den “Muff von 1000 Jahren” wie ein lauer Wind. Denn jetzt geht es nicht gegen die nationalkonservativen und autoritären Dinosaurier-Professoren der 60er Jahre, sondern gegen die Universität als Institution. Bezeichnenderweise sind die Akteure dieser Revolution auch nicht mehr die Studenten, sondern die Professoren selbst.[1]

    Humboldt reloaded
    Humboldt reloaded

    Die wichtigsten Anzeichen für diese Revolution sind die zahlreichen Internetbasierten Bildungsstartups – vor allem aus den USA: Udacity, Coursera, Khan Academy, ShowMe, LearnZillion, Skillshare oder Rheingold U. Bei Udacity – das ist das Startup, dass im Moment die meiste Aufmerksamkeit auf sich zieht – kann man zum Beispiel von dem Robotik- und KI-Professor an der Stanford University Sebastian Thrun lernen, wie man ein selbst-fahrendes Auto baut (das ist übrigens mal ein großartiges Beispiel für Einheit von Forschung und Lehre). Natürlich nicht, bevor man die sehr inspirierende und abwechslungsreiche Vorlesung von David Evans (University of Virginia) zur Einführung in die Informatik absolviert hat. Danach bietet sich beispielsweise der fortgeschrittene  Programmierungskurs von Peter Norvig an, der neben seiner Udacity-Tätigkeit Forschungsleiter bei Google ist.

    Diese Fernlehrgänge, die (zumindest von dem was ich gesehen habe) eine sehr hohe Qualität haben und alle Register des Online-Lernens ziehen (Videovorlesungen, Testfragen, Hausaufgaben, Programmierübungen, Sprechstunden, Foren etc.), kommen dem Humboldtschen Ideal viel näher als der gegenwärtige Status Quo der Universitäten: Diese Hochschulpädagogik ist wirklich universell oder sogar kosmopolitisch. Jeder Mensch weltweit kann sich in diese Vorlesungen einschreiben und von den besten Forschern und Lehrern dieser Fächer lernen. Zur Einschreibung müssen weder Abiturzeugnis noch Versicherungsschein mitgebracht werden, sondern nur eine gültige Email-Adresse. Je länger man sich mit dem Thema auseinandersetzt und die Vorlesungen, Übungen und Forendiskussionen verfolgt, desto unsinniger erscheint die Vorstellung eines “Hochschulzugangs”. Den Zugang zu Hochschulbildung nach irgendwelchen Kriterien zu beschränken, ist in etwa so unsinnig und abstoßend, wie die Einschränkung des Zugangs zum World Wide Web.

    Klar, die (Fach)hochschulreife als offizielles Einlassdokument für die Hochschule war in einer Zeit vielleicht noch sinnvoll, in der man mit begrenzten Räumen wirtschaften musste. Das hatte aber nicht nur die Folge, dass Menschen, die aus irgendwelchen Gründen kein Zeugnis besitzen, nicht an der universitären Bildung teilnehmen durften (diese aber unabhängig von Bildungsstand mit ihren Steuern finanzieren müssen).[2] Eine weitere Folge war, dass die besten Kurse, Seminare und Vorlesungen immer hoffnungslos überfüllt waren. Gott sei Dank hat uns das Internet von diesen Unzulänglichkeiten erlöst. An den Vorlesungen von Udacity oder Coursera können eine Person oder eine Million Personen teilnehmen. Bildung skaliert endlich! Ein Grund dafür ist auch die Durchsetzung von Englisch als Weltsprache der Wissenschaft.

    Die Revolution der Bildung wird dazu führen, dass ich mich nicht mehr für eine Hochschule und einen Studiengang entscheiden muss und dann alle Vorlesungen, Übungen und Seminare inklusive aller Professoren und Dozenten unabhängig von ihren Fähigkeiten in Forschung und Lehre im Komplettpaket kaufen muss, sondern dass ich mir die besten Kurse und die inspirierendsten Lehrer der ganzen Welt heraussuchen kann. Es gibt keine Ausrede mehr, von unmotivierten Beamten auf Lebenszeit den Wissensstand wie er vor 20 Jahren einmal aktuell war, zu lernen. Von den Möglichkeiten der Individualisierung durch intelligente (und semesterunabhängige) Verknüpfung von Kursen und dem Tracking des Lernfortschritts der Studenten ganz zu schweigen.

    Das bedeutet schließlich auch den allmählichen Bedeutungsverlust von Zeugnissen. An die Stelle von Bachelor- und Masterzeugnissen, die nicht viel mehr besagen, als dass es eine Person einige Jahre im Universitätsbetrieb ausgehalten hat, treten individuelle Beurteilungen und Scores, die man in den einzelnen Kursen erworben hat. Wahrscheinlich wird dadurch in den nächsten Jahrzehnten ein neuer Markt von Zertifizierungs- und Beurteilungsinstituten entstehen, die verschiedene Zertifikate vergleichen, übersetzen und gegenrechnen. Vielleicht ist die politische Forderung “Hochschulabschluss für alle” gar nicht so kindisch und unrealistisch wie sie im Moment noch klingen mag.

    [1] Ich schreibe hier nur über die Hochschullehre. Es gibt aber nur wenige Gründe, warum diese Veränderungen nicht auch die Sekundarbildung erfassen sollten.

    [2] Selbstverständlich gibt es auch Möglichkeiten, mit einer beruflichen Bildung zum Hochschulstudium zugelassen zu werden. In Bayern genügt beispielsweise der “Abschluss einer mindestens zweijährige Berufsausbildung in einem zum angestrebten Studiengang fachlich verwandten Bereich” in Verbindung mit einer anschließenden “mindestens dreijährige[n] hauptberufliche[n] Berufspraxis in einem zum angestrebten Studiengang fachlich verwandten Bereich”, der “Absolvierung eines Beratungsgesprächs an der Hochschule” und dem “Bestehen einer besonderen Hochschulprüfung (Hochschulzugangsprüfung)” oder der “nachweislich erfolgreiche[n] Absolvierung eines Probestudiums von mindestens 2 Semestern.” Piece of Cake!

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    Als ich ein Kind war, tat ich wie ein Kind.

    2012-04-29 10:08:53
    GO-Antrag auf Meinungsbild: Ob die Orga- und Versammlungsleitung für die gute Arbeit einen Gutenmorgenflausch verdient hat.
    2012-04-29 10:09:14
    Versammlungsleiter: Ich möchte der Versammlung mitteilen, dass der Orga und der Versammlungsleitung vor lauter Flausch ein Fell wächst.
    Protokoll zum 1. Bundesparteitag der Piratenpartei 2012

    Ein Erwachsener ist mündig, das heißt, er spricht für sich selbst, tritt für sich ein, übernimmt Verantwortung. Aber nach einiger Zeit tritt Ernüchterung ein – man erkennt, dass man doch nicht alles schaffen kann, was man sich erträumt hatte. Erwachsene gehen zur Arbeit, auf Twitter klagen sie, wenn es Montag ist – sie sind müde, weil sie Sonntag Abend nach dem Tatort auch noch den langweiligen Polit-Talk im Fernsehen angeschaut haben.

    Und Politik muss offenbar genauso langweilig und nüchtern ablaufen, wie der typische Sonntag Abend, sonst ist sie nicht erwachsen, sondern infantil. “Wer glaubt, dass aus der Piratenpartei eine Inspiration oder Erneuerung der Parteiendemokratie erwüchse, muss mit dem Klammerbeutel gepudert sein.” schreibt die Welt; der Vorwurf: die Piratenpartei sei ein infantiler Haufen. Gerade das Kindische scheint für manchen das Bedrohliche an den Piraten. “Manche Ideen sind kindisch (Hochschulabschluss für alle), manche hanebüchen (weg mit geistigem Eigentum!)” ereifert sich das Handelsblatt entsprechend.

    Ich glaube, diese Beobachtung ist richtig. Es gibt heute sehr viele “Erwachsene”, die sich unwohl im Bierernst der Erwachsenenkultur fühlen.

    Kinder zerlegen Dinge in ihre Einzelteile. In einem bestimmten Alter stellen Kinder solange die Frage “Warum?” bis selbst der erfahrenste Dialektiker keine Antwort mehr kennt. Ich baue gerne mit Lego. Deshalb mag ich Minecraft und habe für die Firma einen 3-D-Drucker angeschafft. Ich kenne viele Leute in meinem Alter, denen es ähnlich geht. Programmieren hat für mich viel Ähnlichkeit mit dieser kindlichen Freude an analysieren und wieder aufbauen.

    Kinder spielen gerne mit ihrer Identität. Von Erwachsenen erwartet man, dass sie nur noch eine Rolle spielen; erwachsenes Verhalten muss konsistent bleiben; es geht um Wiedererkennbarkeit und Berechenbarkeit. Auf der anderen Seite gibt es viele Menschen, die den Wunsch haben, ihre Identität selbst zu bestimmen und gegebenenfalls auch zu ändern. Das beginnt mit Autonymität – sich seinen Namen selbst geben zu dürfen. Aber letztlich geht es darum, uns selbst zu formen, wie den Avatar unserer Netz-Identität. Dieser Wunsch wird von den Ernüchterten als Kinderei abgetan oder sogar für gefährlich gehalten.

    How can children grow up in a world in which adults idolize youthfulness? McLuhan

    Der faszinierende Widerspruch zwischen den infantilen Erwachsenen und dem ansonsten herrschenden Kult der Jugendlichkeit ist, dass es uns nicht darum geht, das körperliche Altern zu leugnen. Das Kindliche ist etwas völlig anderes, als Jugendlichkeit.

    Auch auf diesem Bundesparteitag der Piraten haben sich wieder lauter Leute auf Vorstandsämter beworben, die so gar nicht politisch geschliffen wirken. Der Versammlungsleiter ist mit einem Prinzessinen-Diadem im ZDF zu sehen und mittelalte Männer vertreiben Kinder aus dem Bällebad.

    Vielleicht ist infantile Politik sogar das stärkste Versprechen, dass die Piratenpartei den Wählern macht. Das Wählerpotenzial, das von dieser politischen Kultur angesprochen wird, ist riesig – ich denke, es geht um mehr als 30 Prozent.

    Ich hoffe, dass diese infantile politische Kultur sich weiter durchsetzt, damit auch die politische Geschäftsführung anderer Parteien auf übellaunige, bösartige Presseanfragen mit ROFLCOPTER GTFO antworten können.

    Weiterlesen:
    Die Lebensalter
    Declaration of Liquid Culture

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    Declaration of Liquid Culture

    [Download als PDF]
    [English Translation]

    Präambel: Die Geschichte ist nicht zu Ende – sie verflüssigt sich.

    Wenn wir in einem Boot auf dem Fluss fahren, erkennen wir unsere eigene Bewegung am vorbeiziehenden Ufer. Dass immer wieder neue Uferabschnitte vor uns auftauchen, während wir andere, an denen wir gerade vorübergefahren sind, hinter uns lassen, empfinden wir als Fortschritt. Je breiter der Fluss, desto weniger können wir unsere eigene Bewegung bemerken – bis wir auf dem freien Meer unser Bezugssystem, an dem wir Fortschritt festmachen, ganz verloren haben.

    Enge Ufer geben unserer Bewegung eine eindeutige Richtung und eine klare Orientierung, weite Ufer geben uns Bewegungsfreiheit.

    In diesem Moment fahren wir auf einem Fluss, dessen Ufer immer weiter werden. Wir können sie zwar noch erkennen, aber es ist eher die Erinnerung daran, dass wir sie vor kurzem noch nahe vor Augen hatten, die uns das Gefühl von Bewegung nach vorne vermittelt. Die Moderne verschwindet. Die Postmoderne sind die letzten, offenen Marschwiesen. Jammern wir nicht alten Ufern nach, die vorbeigezogen sind. Freuen wir uns auf die offene See.

    Declaration of Liquid Culture

    Liquid Democracy: “Sprich mit uns, sprich nicht für uns”

    Wir fassen Menschen nicht zu Mengen zusammen, um sie dann durch ein typisches Exemplar repräsentieren zu lassen. Wir brauchen keine Zielgruppen mehr, kein Gender, keine ethnische Herkunft, um Menschen als einzelne für sich sprechen zu lassen. Strukturen der Repräsentation – auch wenn sie als “Volk”, als “Staatenbund”, als “Parteien” weiter bestehen – bedeuten uns nichts mehr.

    Unsere Demokratie ist flüssig geworden. Aktives und passives Wahlrecht werden deckungsgleich. Jeder tritt für sich selbst ein und auf. Jeder spricht mit gleicher Stimme, aber das nicht nur, um seine Vertreter zu wählen, sondern um direkt mitzugestalten.

    Liquid Identity: Wir sind viele

    Unsere Identität lässt sich nicht mehr in eine starre Form pressen. Der willkürliche Name, den wir geerbt haben, steht neben unseren wahren Namen, die wir uns selbst geben. Unsere Nicknames, Handles und Avatare sind Teil unserer körperlichen Manifestation – wie unsere Frisur oder Kleidung.

    Liquid Economy: Sharing is Caring

    Teilen ist das neue Haben. Güter sind nicht nur zum Besitzen da, sondern zum Teilen, Tauschen, Weiterschenken und gemeinsam Nutzen. Konsum ist kein Selbstzweck. Wir sind Millionen, bald Milliarden, die vernetzt die Welt gestalten. Wir verteilen unsere Kraft und unsere Güter mit den neuen Werkzeugen, die wir in Händen haben: Wikipedia, Github, Makerbots, Wikis, Pads und unzählige weitere Gemeinschafts-Plattformen. Wir zeigen unsere Fähigkeiten und sind bereit, sie zu teilen. Wir arbeiten, weil wir es wollen und wo wir es wollen. Wir arbeiten gerne mit anderen zusammen – auch wenn nicht immer am selben Projekt. Was uns wichtig ist, bezahlen wir. Wir spenden, wir beteiligen uns mit Geld oder mit unserer Arbeitsleistung. Wir verwalten nicht, wir handeln. Was uns fehlt, das gründen wir.

    Liquid Science: Was ist Wahrheit?

    Die Welt ist, was der Fall ist und nicht, worauf wir uns verständigen, dass sie zu sein hat. Es gibt keinen Kompromiss. Wenn wir keinen Konsens finden, was wir für wahr halten, dann bleiben wir besser uneins. Die Meinung der Mehrheit hat keinen Anspruch auf Wahrheit. Gleichzeitig steht alles Wissen in Frage. Kein Konsens ist festgeschrieben. Nur wenn unser Konsens das Beharren und Provozieren der Trolle übersteht, ist er stabil genug, die wirklichen Herausforderungen zu bestehen.

    Unser Wissen fließt. Alles, was wir über die Welt wissen, ist im stetigen Fluss. Wir passen unsere Modelle der sich verändernden Welt an – und nicht die Welt unseren Modellen. Wie sich unsere Timeline ständig erneuert, so fließen neue Daten in unser Wissen und verändern unsere Modelle von der Welt.
    Ununterbrochen sind wir damit beschäftigt, die unterschiedlichen Schläuche, durch die unsere Daten zu uns fließen, zusammenzuführen, die Ströme zu vermischen und weiterzuleiten. Manchmal wird ein Schlauch brüchig. Bevor er platzt, lassen wir ihn fallen und nehmen seine Daten aus unserem System.

    Liquid Art: Der Einzige und sein geistiges Eigenthum.

    Code is poetry. Unsere Kunstwerke heißen Twitter, Instagram, Youtube oder Github. Dort ist jeder frei, seine Werke öffentlich zu machen. Jedes Werk wird von denen gefunden werden, die danach suchen. Unsere Künstler sind die Entwickler, die durch ihre kreative Arbeit diese Freiräume schaffen, unsere Ateliers sind die Coworking- und Hackerspaces, unsere Galeristen und Sammler sind die Venture Capitalists, die den Kreativen die Arbeit finanzieren und sie bei Erfolg groß machen.

    Wer mag noch von sich behaupten: “Siehe, dies ist mein Werk”? Die Zeit ist vorbei, in der Werkzeug und Bildung definierte, wer ein Künstler ist und wer nicht. Die Hochkultur ist so tot wie das Latein des 13. Jahrhunderts. Man spricht es noch, aber es hat seine Bedeutung verloren. Stattdessen blühen die Volkssprachen. Diese Volkssprachen definieren die Kultur. Wunderbare Werke werden aus dem Vorhandenen geschaffen. Originalität bedeutet, den richtigen Remix finden.

    Die Rolle des Kreativen als Schöpfer seines Werkes löst sich auf. In Liquid Authorship ist ein Werk nie abgeschlossen – das Werk ist in Bewegung, es wird genährt von allen, die es schaffen, aufgreifen, verbreiten und weiterentwickeln. Das fließende Werk hat keinen Anfang und kein Ende, es lebt weiter. Es ist eine gesellschaftliche Wertschöpfung. Kultur ist keine Ware, sondern ein Prozess.

    Kultur ist unser Kult. Die Symbole unseres Kultes sind nicht religiös. Es sind die Zeichen, die wir teilen, um uns miteinander zu verbinden. Der Hash-Tag ist uns das Pentagramm der Alchimisten und Katzenbilder sind uns der Fisch der frühen Christen in den Katakomben. Aber wer hat das Recht, uns den Zugang zu unserer Kultur zu verbieten? Wer hat das Recht, uns zu sagen, wie wir unsere Symbole zu tauschen haben? Es ist unser Kult. Nur wir selbst haben alles Recht daran.

    Liquid Dataism: Nousphere

    Wir erweitern unseren Körper. Räder sind uns schnelle Füße, Kleidung ist eine zweite Haut. Auch unsere Sinne erweitern wir: die Augen mit Teleskop und Mikroskop, die Nase mit Chromatographen, die Ohren mit Lautsprechern. Und schließlich unsere Nerven und unser Gehirn – durch das Netz. Wie unsere Körper sich im Raum bewegen, so auch unsere Daten im Netz. Das Netz spannt uns neue Dimensionen auf, in denen wir leben. Unsere Daten sind unser Leib im Internet.

    Agnoscit Praesentem. Die Sterne am Himmel – sie geben uns Halt, das Schiff auf der uferlosen See zu steuern.

    Santa Clara, Ca. / Bonn, 2012
    Jörg Blumtritt, Benedikt Köhler, Sabria David

     

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    Jenseits der Sehnsucht

    Nico Lumma versucht in diesem Blogpost die Umfrageerfolge der Piratenpartei aus der Sehnsucht der Protestwähler nach einem neuen Politikstil zu erklären: Eine Politik mit weniger Staatsräson und Alternativlosigkeiten, nach der sich die jüngeren Wähler so sehr sehnen und die sie bei den etablierten Parteien nicht mehr finden. Am Ende des Posts kommt das große Aber: “Es ist natürlich die Frage, ob und wenn ja wie, die Piraten diese Sehnsucht vieler Wähler auch bedienen können.”

    Die Akteure sind also klar definiert:

    • die (jungen) Protestwähler mit einer Sehnsucht nach einer Veränderung in der Politik,
    • die etablierten Parteien mit ihrem zuviel an Bürokratie und Ritualen,
    • die Piratenpartei, die als Projektionsfläche dient – für die Sehnsüchte der Protestwähler und die Ängste der etablierten Parteien.

    Nimmt man dieses Szenario ernst, dann haben die etablierten Parteien tatsächlich gar nicht so viel zu befürchten. Sie müssen sich nur ein bisschen öffnen, ein bisschen Transparenz in ihre Berliner Ritualveranstaltungen bringen und vielleicht auch ein bisschen “ernsthaft” mit netzpolitischen Ideen auseinandersetzen (Was haben die Steinmeiers denn bitte vorher gemacht?). Dann können sie in Ruhe abwarten, dass die Piraten den überhöhten Erwartungen nicht gerecht werden und an den Herausforderungen der Realpolitik scheitern.

    Als politische Beruhigungstablette (“Flausch forte”) mag das noch funktionieren. Als Erklärung dessen, was gerade im politischen Deutschland passiert, ist das allerdings ebenso einfach gedacht wie falsch. Denn: Die Piratenpartei wird nicht von Sehnsüchten von einem Umfragehoch zum nächsten und von einem Wahlerfolg zum nächsten getragen, sondern von einer viel tieferen Strömung: Der Erkenntnis, dass Politik möglich ist. Und zwar jetzt sofort.

    Es ist gar nicht notwendig, die Ochsentour von Infostand zum Bundesdelegierten zu durchlaufen, um die Partei inhaltlich mitzugestalten. Es ist gar nicht notwendig, ein Parteibuch zu besitzen, um zu erfahren, wo wie und von wem welche Anträge auf den Weg gebracht werden. Es ist gar nicht notwendig, ein Amt oder Mandat zu besitzen, um politisch zu denken. Oder etwas allgemeiner: Es ist gar nicht notwendig, sich als Repräsentant zur Wahl zu stellen, um für eine politische Idee zu sprechen. Diese Partei muss gar nicht repräsentiert werden, sondern jeder kann für sich und mit jedem sprechen.

    Als ich noch an der Uni gearbeitet und gelehrt habe, war der Wandel weg von den festen Organisationsformen des Ehrenamtes und der Politik hin zu frei-flottierenden (Soziologenjargon, sorry) Formen des Engagements en vogue. Die Piraten haben es jetzt aber geschafft, beides miteinander zu verbinden: eine Organisationsform, die auf eine längere Lebensdauer ausgelegt ist als eine Bürgerinitiative, aber gleichzeitig so etwas wie Instant-Involvement ermöglicht. Das hat die Piratenpartei freilich nicht selbst erfunden. Die kreative und kollaborative Onlinekultur kennt das schon lange: Wikipedia, Openstreetmap und WordPress sind die Vorbilder für dieses Einklinken in Echtzeit.

    Wer aber die Piratenpartei als Sehnsuchtsort beschreibt, verkennt die Tatsache, dass sie schon längst diesen neuen Politikstil, den die etablierten Parteien so sehr fürchten, verwirklicht haben (als ständige Betaversion allerdings, die immer mal wieder hängen bleibt). Das ist in etwa so, als würde man die Wikipedia als Projektionsfläche für eine freie Wissensplattform sehen und nicht als eine zentrale kulturelle Institution, die längst unsere Art, Wissen zu schaffen, validieren und zu sammeln verändert hat.

    Guten Morgen! Die Verflüssigung der Parteienlandschaft hat bereits begonnen.

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    Piratenpartei

    There must be a beginning of any great matter, but the continuing unto the end until it be thoroughly finished yields the true glory.Francis Drake

    Ich bin froh, dass ich Mitglied der Piratenpartei bin. Wenn ich es nicht schon wäre, würde ich heute eintreten. Das ist mir beim Lesen des Handelsblattes klar geworden, wie schon lange nicht mehr.

    “Mein Kopf gehört mir” – unter diesem Titel geben hundert “Schriftsteller, Sänger, Künstler, Werber, Softwareentwickler und Unternehmer” im Handelsblatt ihre Gründe an, warum sie glauben, dass die Piratenpartei ihr Gegner sei, uns zwar wegen der “Umsonstkultur im Internet”.

    Goethe als Abziehbild vorne drauf. Der Titel, der sich auf “Mein Bauch gehört mir” bezieht, ist ein ekelergegendes Spiel, mit dem die Not und die ethischen Konflikte von Frauen vor einer Abtreibung ins Lächerliche gezogen werden. Ich möchte gar nicht weiter auf diesen menschenverachtenden Zynismus eingehen, aber er spricht Bände über den verkommenen Seelenzustand der Verfasser dieses Textes. Dabei kenne ich nicht wenige der hundert Leute persönlich, die da im Handelsblatt gegen die Piratenpartei polemisieren, mit einigen hatte ich auch geschäftlich zu tun.

    Ich arbeite seit fünfzehen Jahren für die Werbewirtschaft und die privaten Medien – und zwar überzeugt. Umso trauriger macht es mich, dass meine Branche offenbar so wenig anpassungsfähig ist. Schade, dass weder Google, noch Facebook, weder Twitter noch Spotify, weder Instagr.am noch git.hub von einem Medienunternehmen erfunden wurden. Aber das sind die Orte, an denen heute unsere Kultur geschöpft wird, die ‘Kostenloskultur’, wie sie von den Angestellten und Krämern der Kulturindustrie geschmäht wird.

    Ich halte mich für einen politischen Menschen. Und ich hatte es dennoch nie geschafft, mich in einer politischen Partei zu engagieren. Die Parteien, wie sie waren, empfand ich als eng und wenig durchlässig.

    Durch das repräsentative System findet dort politsche Arbeit praktisch nur per Delegation statt, über Kreis- und Bundesdelegierte, per Vertretung durch Referenten, durch Experten in der Parteizentrale. Und auf Parteitagen stimmen dann die Kreisdelegierten über die vorbereiteten Entwürfe ab.

    Politik hat für die bestehenden Parteien offenbar auch das ausschließliche Ziel, an die Regierungsmacht zu gelangen – Koalitionen werden um jeden Preis geschlossen, die innersten Werte der Parteien auf dem Altar der Macht geopfert. Seit der Regierung Schröder sind die Grünen daher für mich unwählbar geworden.

    Und schließlich: die Programme der bestehenden Parteien spiegeln meine Lebenswirklichkeit nicht wieder. Die Dinge die mir wichtig sind, finde ich dort nicht. Im Gegenteil – meine Kultur wird offenbar als Bedrohung empfunden, was ich als meine Bürgerrechte sehe, ist für die andern nur “Rechtsfreier Raum”, der natürlich genauso zusammengestutzt werden muss, wie die spießigen Vorgärten, für die mein Land weltweit berühmt ist. Gartenzwergkultur.

    Was mich an der politischen Theorie der Piratenpartei fasziniert, habe ich oft gepostet. Seit einigen Monaten möchte ich erleben, wie daraus Praxis wird.

    Ich möchte unserer Gesellschaft helfen, die anstehenden Veränderungen ohne große Schäden zu überstehen. Und ich habe auch die Hoffnung für meine Branche noch nicht verloren, die Medien und Werbung.

    Deshalb habe ich mich entschlossen, dem Kommando “Klarmachen zum ändern” zu folgen.
    Deshalb bin ich Mitglied in der Piratenpartei.