Gonna stand my ground, won’t be turned around
And I’ll keep this world from draggin’ me down
Gonna stand my ground and I won’t back down
Tom Petty
Die Piratenpartei bezeichnet sich selbst offziell als Mitmachpartei. Das klingt nach “Anpacken”, “Jeder darf mal”, “Nichts für Faule”, fast nach Polit-Theme-Park mit Animation – “hier wird niemand langweilig”.
Dass Mitmachpartei allerdings etwas ganz anderes meint, ist in den letzten Wochen mehr und mehr deutlich geworden: die Piratenpartei sieht sich als eine Partei von politisch handelnden Menschen; jedes Mitglied ist selbst Politiker. Dieses Verständnis einer so weitgehend aktiven Mitgliedschaft hat weitreichende Konsequenzen.
„Letztendlich verleihen die Beobachter, die mehr als der Handelnde sehen, dem
Handeln den gemeinsamen Sinn, der eine Welt entstehen läßt. […] Im öffentlichen Raum befinden sich die Handelnden im Entborgenen, werden sie beobachtet, man spricht über sie, ihre Geschichte wird überliefert”
Hans-Martin Schönherr-Mann: Hannah Arendt. Wahrheit Macht Moral.
1) Öffentlichkeit ist die Grundlage von Transparenz
Transparenz ist eine Kernforderung der Piraten. Transparenz bedeutet Nachvollziehbarkeit aller politischen (und staatlichen) Entscheidungen und Prozesse. Voraussetzung für Transparenz ist Öffentlichkeit – nur was offen sichtbar ist, kann transparent werden.
Selbstverständlich muss die Forderung der Transparenz zu allererst für die Piratenpartei selbst gelten. Da sind zunächst die Amts- und Mandatsträger. Klar – möchte man sagen – die haben sich ihren Job ja schließlich herausgesucht; die wussten vorher, dass wir von ihnen völlige Offenheit erwarten. Aber die Piratenpartei unterscheidet sich in einem Punkt wesentlich von anderen politischen Parteien: es gibt keine gewählten Delegierten; die Piraten-Basisdemokratie macht es unabdingbar, dass auch alle Entscheidungen der Parteibasis transparent, d.h. offen und nachvollziehbar getroffen werden. Nachvollziehbarkeit bedeutet vor allem, dass klar ist, wer was getan hat (um evtl. daraus zu schließen, warum – insbesondere, wenn der Verdacht von Einflussnahme ausgeräumt werden soll). Daraus folgt, dass wenn möglich alle Aussprachen, Aufstellungen und Abstimmungen persönlich und offen ablaufen sollten.
Die Offenheit ist nicht nur Kontrolle, sondern bietet auch Schutz vor Angriffen. Wenn alle zusehen, wird auch Einschüchterung unwahrscheinlicher. Deshalb ist es auch so wichtig, dass Parteitage und Demonstrationen öffentlich verlaufen und jeder Mensch uneingeschränkt Bilder und andere Aufzeichnungen davon machen kann.
2) Spezialfall Liquid Democracy
Liquid Democracy ist ein politisches System, dass Basisdemokratie mit einer nicht-repräsentativen Delegationsmöglichkeit verbindet.
Jedes Mitglied kann selbst abstimmen, aber man kann seine Stimme auch delegieren – für eine einzelne Abstimmung, für ein bestimmtes Thema oder allgemein für eine bestimmte Zeit. Wenn ich nicht selbst von meiner Stimme gebrauch mache, hat mein Delegierter dann meine Stimme zusätzlich zu seiner eigenen (und gegebenenfalls zu weiteren Stimmen, die er von anderen per Delegation erhalten hat).
Wenn ich meine Stimme delegiere, möchte ich wissen, was mein Vertreter für mich abgestimmt hat – genau wie ich das bei den demokratischen Repräsentaten in den Parlamenten verlange. Damit kann mein Delegierter kein Wahl- oder Abstimmungsgeheimnis mehr für sich beanspruchen. Umgekehrt muss für mich nachvollziehbar bleiben, warum ein Mensch mit mehreren Stimmen gewichtet wird – es muss möglich sein, zu sehen, wen er vertritt. Damit schwindet auch ein Teil des Abstimmungsgeheimnisses der Leute, die ihre Stimme an andere Delegieren.
3) Liquid Feedback
Basisdemokratie und speziell Liquid Democracy funktionieren IRL nur für kleine Gemeinschaften – typischer Weise kleine Dörfer. Erst mit der Web-2.0-Logik der Social Networks konnten “elektronische” Werkzeuge entwickelt werden, um nicht-repräsentativ einen Willen zu bilden, wie das bei Basisdemokratie notwendig ist. Liquid Feedback ist das System, dass die Piratenpartei für Liquid Democracy einsetzt.
Für alle netzbasierten Wahlsysteme gilt : wenn die Abstimmungen geheim oder unter Pseudonym ablaufen, kann nie ausgeschlossen werden, dass es nicht möglich ist, gefälschte Nutzer-Konten anzulegen und damit abzustimmen. “Nein, Hase42 wird nicht darüber abstimmen, ob wir die Todesstrafe einführen wollen.” fasste Katja Dathe dieses Problem überspitzt zusammen, als im Landesverband Berlin darüber gestritten wurde, Liquid Feedback nur für Leute mit ihren bürgerlichen Namen freizugeben. Bei mehreren zehntausend Wahlberechtigten kann kein System mit Pseudonymen mehr transparent gehalten werden; Mitgliedsnummern sind da nicht besser, außer natürlich, ich kann jederzeit nachsehen, wer sich hinter welcher Nummer verbirgt – dann ist die Pseudonymisierung aber kein Schutz mehr und ich kann gleich meinen bürgerlichen Namen ins Profil schreiben.
Politische Abstimmungen müssen in der Regel auch noch nach Jahren nachvollziehbar bleiben – damit führt Liquid Democracy automatisch nicht nur zu einer deutlichen Reduktion des Wahlgeheimnis, sondern auch noch zur “Voratsdatenspreicherung” des personenbezogenen Abstimmungsverhaltens – für die Aluhüte der Show-Stopper; ohne Frage.
On some positions, Cowardice asks the question, “Is it safe?” Expediency asks the question, “Is it politic?” And Vanity comes along and asks the question, “Is it popular?” But Conscience asks the question “Is it right?” And there comes a time when one must take a position that is neither safe, nor politic, nor popular, but he must do it because Conscience tells him it is right. I believe today that there is a need for all people of good will to come together with a massive act of conscience and say in the words of the old Negro spiritual, “We ain’t goin’ study war no more.” This is the challenge facing modern man.
Martin Luther King Jr.
Wir sind die Mitmachpartei. Die Freiheit von Überwachung und die Sicherheit der Privatsphäre, die wir für alle Menschen durchsetzen wollen, können wir für uns selbst nicht einfordern. Zu diesem unangenehmen Schluss bin ich gekommen.
Wenn wir die Gesellschaft verändern wollen, Transparenz und Offenheit als erstrebenswertes Gut zu sehen, müssen wir selbst bedingungslos danach leben und handeln. Nur wenn wir uns selbst als Avantgarde verstehen, bereit sind, unsere eigene Angst zu überwinden und das Opfer zu bringen, unser politisches Handeln und damit unsere politsche Überzeugung offen zu legen, werden wir unser Ziel erreichen – there ain’t no easy way out.
I submit to you that if a man has not discovered something that he will die for, he isn’t fit to live.
Martin Luther King Jr.
Mein Text klingt hier vielleicht melodramatisch – aber es ist in der Tat ganz ernst: es ist nicht auszuschließen – ja ich denke sogar, es ist nicht unwahrscheinlich, dass irgendwann in Zukunft oder irgendwo auf der Welt unser politisches Handeln als Verbrechen gesehen wird. Für nicht wenige Leute ist heute die Mitgliedschaft in der Piratenpartei nicht mit dem Beruf vereinbar – dramatische Beispiele sind mir persönlich bekannt.
Nicht-repräsentative Demokratie – und das ist Basisdemokratie, wenn wir sie nicht einfach auf Meinungsumfragen und Voksentscheide reduzieren wollen – ist eben präsentativ, lebt vom direkt sichtbaren, politischen Handeln.
Wenn wir diese Form von Politik wollen, müssen wir bereit sein, unser Opfer zu bringen. Wie die Suffragetten vor hundert Jahren, die Schwarzen in Amerika, in den 60ern oder die Homosexuellen (bis heute) – wer als erster die Stimme ergreift und Rechte durchsetzen will, muss sich heraus wagen. Aber: je offener wir gemeinsam handeln, desto geringer wird der Spielraum, einen Einzelnen herauszupicken und zu drangsalieren.
Lasst uns also zusammenstehen, die Aluhüte wegpacken und gemeinsam für eine offene und freie politische Kultur kämpfen!
See our numbers still increasing.
Hear the bugles blow.
By our union, we shall triumph
Over every foe.
Fierce and long the battle rages,
But we shall not fear.
Help will come whenever needed.
Cheer, my comrades, cheer.
Billy Bragg
(danke an @ennopark, @denial0fservice und @snougata für die Inspiration)