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Frei, gleich – geheim?

Toutes les élections se font au scrutin secret.
(Constitution du 5 fructidor an III)

Als mit dem Direktorat 1795 die Zeit des Terreur der Französischen Revolution zu Ende ging, wurde in die Verfassung auch erstmals verfügt, dass “alle Wahlen in geheimer Abstimmung zu erfolgen haben”. Das Wahlgeheimnis war geboren und etablierte sich in den folgenden hundert Jahren zu einem Merkmal, das für Demokratien nicht wegzudenken ist. Ja, es ist geradezu kennzeichnend für Diktaturen, dass sie ihre Schein-Wahlen ohne verpflichtendes Wahlgeheimnis durchführen.

Jedes Mal, wenn als ich Beisitzer im Wahllokal mitgearbeitet habe, mussten wir Männer zum Teil mit Gewalt davon abhalten mussten, mit ihren Frauen gemeinsam zu wählen. “Wir machen doch alles gemeinsam, wir haben keine Geheimnisse” – aber das Wahlrecht ist eindeutig, und solche Stimmabgabe ist nicht zulässig.

Mit der US-Präsidentschaftswahl 2008 hat sich das Wahlgeheimnis grundlegend verändert: massenhaft twitterten die Wähler aus der Wahlkabine Bilder ihrer ausgefüllten Stimmzettel – eine politische Demonstration und Aufforderung an die noch unentschlossenen, ebenfalls ihre Stimme für den dringend erhofften Wandel abzugeben. Ab jetzt war klar: das Wahlgeheimnis würde sich in Zukunft nur noch sehr schwer durchsetzen lassen, denn wie sollten Wahlbeisitzer verhindern, dass die Wähler ihr Telefon in die Kabine mitnehmen? (Eine Leibesvisitation wäre schließlich kaum verhältnismäßig).

Geheim ist ohnehin nur das aktive Wahlreicht – wer sich wählen lassen möchte, muss schließlich bekannt sein. – Jedenfalls nach unserer traditionellen Vorstellung von Identität, die von Geburt bis Tod mit einem standesamtlich festgelegten Namen untrennbar verbunden ist.

Aber wieso sollte es nicht möglich sein, unter Pseudonym als Kandidat anzutreten? Es gibt schließlich sogar einen sehr prominenten Fall eines solchen Pseudonyms: Willy Brandt, der als Herbert Frahm geboren, im Laufe seines Engagements gegen den Nationalsozialismus und Faschismus mehrere Pseudonyme annahm.

In einer konsequent direkten Demokratie, wie sie beispielhaft das Liquid Feedback System der Piratenpartei umsetzt, ist jeder zugleich berechtigt abzustimmen, aber auch selbst Anträge zu stellen, die idealer Weise auf breiterer Basis vorher in einem Wiki oder Pad kollaborativ erarbeitet wurden. Damit löst sich die Grenze zwischen aktivem und passivem Wahlreicht auf – je nach eigenem Engagement kann ein “Wähler” ganz passiv bleiben und nur abstimmen oder aber sehr aktiv versuchen, seine eigenen Anträge durchzusetzen. Selbstverständlich kann die Entscheidung, ob jemand nur abstimmen oder auch selbst an Anträgen mitarbeiten möchte nicht vorab getroffen werden – es muss schließlich möglich sein, zunächst zu beobachten und allmälich in den Prozess hineinzukommen. Allerdings wird eine politische Debatte um einen Antrag fast unmöglich, wenn die Beteiligten nicht ein Mindestmaß an Konstanz in ihrer Identität wahren können. Nur wenn ich weiß, mit wem ich rede, kann ich mich klar auseinandersetzen. Konsens verlangt nach Autentizität und Identität.

Wie also umgehen, mit dem berechtigten Wunsch nach geheimer Wahl und der Notwendigkeit zu einer wiedererkennbaren Identität im Liquid Democracy Prozess?

Die Antwort scheinen mir Autonyme zu sein. Das Autonym ist eine Form des Handle oder Avatar (siehe dazu http://fluchderrepublik.blogspot.com). Es spricht nichts dagegen, sich selbst eine Identität zu geben und vor die “behördlich verifizierte” Identität des Personalausweises zu stellen. Damit es nicht zu Missbrauch kommt, sich Leute reine Troll-Identitäten zulegen, muss es ein Reputationssystem geben, mit dem konstante Beteiligung belohnt wird. Und selbstverständlich gibt es in solch einem System immer nur ein Autonym pro Person zur selben Zeit – sonst könnte schließlich jeder mehrfach abstimmen. (zum Thema Troll-Politik siehe “Wikipedia ist mehr als eine Enzyklopädie”)

Die scharfe Kritik an der willkürlichen Namenspraxis von Google+ hat gezeigt, wie wichtig in unserer Kultur die Autonyme geworden sind. Es sind nicht Schein-Identitäten, sondern es sind ganz reale Zeichen für die Personen/Persönlichkeiten dahinter. Über die Jahre sind diese für mich viel aussagekräftiger, als die “Klarnamen”, genau wie der Name Willy Brandt auch nach dem 2. Weltkrieg für den Politiker steht und sein Geburtsname für uns heute völlig bedeutungslos geworden ist.

Liquid Democracy sollte nicht hinter die Kultur zurückfallen, die wir uns in Jahren im Netz aufgebaut haben – eine Kultur der selbstbestimmten Identität.

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Politik als Co-Creation

Jeder kennt das: man kauft ein Produkt und sofort fällt einem auf, was daran nicht so ganz 100% gut ist – oft Kleinigkeiten, bei denen man denkt: es wäre doch so einfach zu beheben! Problem: die Firma wird es in der Regel nie erfahren. Man könnte anrufen oder schreiben – aber in der Regel ist die Produktion schon so festgelegt – die Maschinen eingerichtet, die Werkstoffe eingekauft, dass kurzfristig selbst gravierende Schwächen nicht mehr auszugleichen sind.

Wie bekommt man das verteilte Wissen der Kunden ins Unternehmen? Und zwar rechtzeitig, schon bei der Entwicklung eines neuen Produkts? In vergangenen Zeiten hätte man Marktforschung gemacht. Man hätte sich einen Fragebogen ausgedacht, den potenziellen Kunden einen “Prototypen” gezeigt oder eine Gruppendiskussion geführt. Aber die Teilnehmer an der Forschung wären immer nur zufällig ausgewählt gewesen, irgendwelche Leute. Alternativ hätte man Berater oder Experten beauftragt, ein Gutachten zu erstellen, ob das neue Produkt tatsächlich den erwarteten Erfolg zeigen würde.

Co-Creation geht einen anderen Weg. Man beginnt mit einer sorgfälltigen Recherche im Netz, vor allem in Foren und anderen Social Media, welche Gespräche vielleicht schon über das betreffende Thema geführt werden. Dabei lernt man bereits viel über den “Stand der Technik” – aber vor allem: man findet wirkliche Experten, Menschen, die sich leidenschaftlich und vielleicht schon lange mit den Themen auseinandersetzen. Im nächsten Schritt schafft man eine Plattform, auf der die Menschen, die sich für das Thema interessieren, an der Entwicklung des neuen Produktes direkt beteiligen können. Experten oder Meinungsführer, die einem besonders wichtig sind, kann man explizit einladen, sich zu beteiligen. Statt also, wie früher, einen Prototypen im Labor zu entwickeln, dann Marktforschung zu machen und – mehr oder weniger auf gut Glück – das Produkt in den Markt zu werfen, hat man mit Co-Creation von anfang an die späteren Kunden an der Entwicklung beteiligt. Das Produkt entspricht genau ihren Bedürfnissen und alles mögliche Expertenwissen konnte in die Entwicklung einbezogen werden.

Klingt vielleicht Theoretisch? Viele der größten Unternehmen setzen seit Jahren Co-Creation zur Produktentwicklung ein.

Politik wird von Volksvertretern gemacht. Die sollen Entscheidungen treffen, die von Beamten in den Fach-Ministerien zusammen mit Experten aus Lobbygruppenn und Verbänden vorbereitet werden. Ob die Wähler mit der Entscheidung zufrieden sein werden, wird über Fragebögen erforscht. Diese Experten-Herrschaft, die Tatsache, dass die Abgeordneten eigentlich nur noch fertige Vorlagen abnicken, wird häufig kritisiert; zu recht! All das Wissen, all die Leidenschaft mit der sich viele Menschen mit den Themen auseinandersetzen, bleibt ungehört. Der Vorwurf, diese Experten-Politik sei zu weit von den Menschen entfernt, lässt sich nur schwer entkräften.

Warum also nicht Politik als Co-Creation betreiben? Die Einführung partizipativer Plattformen wie Adhocracy oder Liquid Feedback sind erste Schritte. Allerdings ist der Wissenstransfer in diesen Plattformen nicht das vorrangige Ziel, sondern die Unterstützung kollektiver Entscheidungsfindung. Warum also nicht den nächsten Schritt und auch das verteilte Expertenwissen der Menschen systematisch einbeziehen?

Die Hyve AG, spezialisiert auf co-Creation hat unlängst eine Abteilung ‘Open Government’ gegründet, die u.a. für die Bayerische Staatsregierung arbeitet. Jetzt sollte es darum gehen, kollektive Entscheidungsfindung und Co-Creation zusammenzufahren. Dann haben wir Politik 2.0.

Mehr zum Thema:

SPEAK WITH US NOT FOR US
Disrupt Politics!

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Wikipedia ist mehr als eine Enzyklopädie

Wikipedia ist eine sehr nützliche Sache. Selbst hartnäckige Internet-Skeptiker sind in der Regel schnell von der Qualität und Inhaltsfülle überzeugt. Dabei ist der interessanteste Aspekt der Wikipedia für mich nicht, dass darin alles mögliche an Wissen gesammelt steht, sondern, wie es hineinkommt.

Jeder, der schonmal einen Artikel angelegt hat, weiß, wie es abläuft, etwas beizutragen. Du schreibst, und spätestens fünf Minuten später entbrennt eine heftige Diskussion, ob das überhaupt relevant genug für die Wikipedia sei. Oft zieht sich die “Löschdiskussion” über die vollen sieben Tage hin, die als Frist für eine Entscheidung gesetzt sind. Oft ist der Ton bis ans hysterische emotional und sogar beleidigend – auf beiden Seiten. Und dann: schließlich gibt es eine Lösung, einen zeitweiligen Konsens. Der Artikel bleibt oder wird gelöscht. Ist das Lemma, das Thema des Artikels grundsätzlich als relevant akzeptiert, läuft die Diskussion – meist weniger dramatisch – nochmals ab, wenn es darum geht, welche Aspekte zu einem Artikel gehören und welche nicht.

Ich habe oft über die schrecklichen Umgangsformen und die diskursive Dominanz einzelner auf Wikipedia geschimpft. Inzwischen bin ich überzeugt, dass es eine derartig starke Tendenz zur Selbstorganisation gibt, dass diese Probleme überwunden werden. Die Löschtrolle sorgen jedenfalls für ein “Survival of the fittest” – nur Artikel mit unbedingtem Überlebenswillen, werden ihre Meme an die nächste Generation vererben.

Es geht um Wahrheit. Es geht darum, was in der Gemeinschaft der Wikipedianer als Wahrheit akzeptiert wird. Wahrheit und nicht Meinung.

Damit ist Wikipedia ein interessantes Modell für eine neue Form Politik. Unter Politik verstehen wir heute das aushandeln von Kompromissen zwischen unterschiedlichen Meinungen. Bei Wikipedia geht es nicht um Kompromisse, sondern um Konsens. Es gibt kein “dealen” – kein “lässt du meinen Artikel stehen, lösch ich deinen auch nicht.” – Die Diskussionen bei Wikipedia sind deshalb so anstrengend, weil es sich um ein “Ringen um Wahrheit” handelt. (Bäh, dieser Jargon der Eigentlichkeit, aber hier passt er imo).

Politik als Wahrheitsprozess scheint uns nicht möglich. Wie sollten die vielen unterschiedlichen Meindungen der Wähler zu einem “Allgemeinen Willen” zusammengefasst werden, außer über Kompromisse? Aber vielleicht gab es bisher nur kein System, keine Struktur, in der eine Politik der Wahrheit möglich gewesen wäre.

Ich glaube, dass ein “politisches Wikipedia” gute Chancen hat, Politik neu zu erfinden. Deshalb glaube ich an den Erfolg von Liquid Democracy.

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“Keinen Beschluss”

Die Fraktion hat keinen Beschluss für oder gegen esoterisches Heilertum. Die Fraktion lehnt Germanische neue Medizin ab. (piratenfraktion-berlin.de)