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Plus Ultra!

“Bis hierher sollst du kommen und nicht weiter; hier sollen sich legen deine stolzen Wellen!” Hiob 38,11

“Man muß noch Chaos in sich tragen, um einen tanzenden Stern gebären zu können” Nietzsche, Zarathustra


Eine Utopie beschreibt einen Zustand oder Ort, den es (noch) nicht gibt. Der Utopist arbeitet oder kämpft dafür, diesen Zustand zu erreichen. Ob religiös oder ideologisch – am Ende der Mühe steht die Belohnung durch Eintritt in die Utopie.

“Plus Ultra!” – “Immer weiter”. Kaiser Karl V. hatte sich dieses Motto gegeben und in seinem Wappen als Spruchband um die Säulen des Herkules gewickelt, von Alters her das Symbol für das Ende der Welt – wer darüber hinaus segelte, würde unweigerlich über den Rand der Weltscheibe in die Tiefe stürtzen. Für Karl war die Welt rund und nirgends zu Ende. Das europäische Zeitalter der Entdeckungen hatte begonnen.

Non-plus-ultra – es geht nicht besser. Egal ob angebliche Realisten (“das machen wir erst, wenn die Finanzierung 100% klar ist”) oder Utopisten (“Gesellschaft ohne Zwang am Ende des Klassenkampfes”) – die Welt ist eine Scheibe, und wer sich über den Rand begibt, fällt aus dem System heraus.

“Mehr Chaos für mehr Gedanken und mehr Möglichkeiten. Politik der Möglichkeiten, nicht des non plus ultra.” ruft Christina Herlitschka eine neue politische Kultur aus. Schluss mit der Sicherheit von Parteiprogrammen, Schluss mit einem Lagerdenken, das viel zu viele in der Politik wie auf Schienen einem vermeintlichen Ziel entgegen fahren lässt, statt wie in einem Schiff nach allen Seiten beweglich zu bleiben. “Was hat es mit den Parteien, dass sie sich aufführen, wie Fußballmannschaften, die gegen einander gewinnen wollen? (Medien auch so.)” klagt Marina Weisband über dieses Denken in Fesseln.

“Die Piraten sind “die Partei des unendlichen Reichtums”. Die digitale Welt ist durch die unendliche Kopierbarkeit charakterisiert. Die Piraten scheren sich bislang nicht um ökonomische Fragen.
Bei den Wahlen zum Bundesvorstand war es möglich, bei jedem Kandidaten mit “ja” zu stimmen, es waren also mehr Stimmen möglich als Plätze zu vergeben waren.

Angesichts der sich gerade aktuell verschärfenden ökonomischen Krisen ist zu bezweifeln, ob sich mit einer solchen Ausrichtung langfristig Wählerstimmen binden lassen.” Julia Seeliger

Der unendliche Reichtum bedeutet, sich völlige Freiheit im Denken leisten zu können (was nicht automatisch heißt dass die Leute diese Freiheit auch tatsächlich nutzen). Natürlich ist es naiv, die Rahmenbedingungen einfach zu ignorieren. Aber anders als Julia Seeliger glaube ich, dass es viele Wähler gibt, die sich so eine infantile Politik wünschen, die nicht zuletzt durch ihre unprofessionelle Art in maximalem Kontrast zur etablierten politischen Kultur steht.

“Die Vorhandenheitsphilister, mit jenen Brettern vor dem Kopf, die nicht die Welt bedeuten” Ernst Bloch

In unserer Declaration of Liquid Culture vergleichen wir unsere Zeit mit einer Flussmündung, die unser Schiff ins offene Meer entlässt. “Plus ultra!”, wir segeln über den Rand der kartierten Welt hinaus. Kein Ziel vor Augen, aber auch keine Angst vor dem Absturtz ins Bodenlose. Das ist die politische Kultur, die ich mir wünsche.

Die Partei des unendlichen Reichtums stelle ich mir vor, wie die ziegengestaltige Nymphe Amalthea, die mit ihrem früchtegefüllten Horn den Jupiter ernährte, bis er stark genug war, Saturn vom Thron zu stürtzen:

Sed fregit in arbore cornu
truncaque dimidia parte decoris erat.
sustulit hoc nymphe cinxitque recentibus herbis
et plenum pomis ad Iovis ora tulit.

Aber sie brach ein Horn an einem Ast
und war um die Hälfte ihre Zauberkraft beschnitten.
Die Nymphe nahm dieses und umwickelte es in frische Kräuter
und trug es zu Jupiter, gefüllt mit Früchten. Ovid, Fasti

Weiter lesen:

Lost Generation
Offenes politisches Handeln

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Wir halten uns ans Grundgesetz?

Artikel 16a (1) Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.
(2) Auf Absatz 1 kann sich nicht berufen, wer…

“Wir halten uns ans Grundgesetz, da sind wir konservativ.” steht auf einem Plakatmotiv der Piratenpartei. Ich frage mich, ob das stimmt. Und ich frage mich, wenn es denn überhaupt stimmt, ob ich es gut finde!

1993 hatten Union und SPD in einem – seit der Einführung des “Notstandsartikel” 115a ins Grundgesetz – beispiellosen Schulterschluss das Recht auf Asyl in Deutschland de facto abgeschafft. Die zugefügten Absätze machen es für Verfolgte so gut wie unmöglich, nach Deutschland zu gelangen, ohne durch einen “sicheren Drittstaat” zu reisen.

Aber selbst ohne diese Verstümmelung bleibt Artikel 16a weit hinter der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zurück, wo es schließlich in Artikel 14 heißt “Jeder hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen.” – also nicht nur politische Verfolgte!

Es gibt also Grund genug, sich Artikel für Artikel einmal genauer anzusehen. Ob Post- und Fernmeldegeheimnis (Art 10) oder die Unverletzlichkeit der Wohnung (Art 13) – in vielen Fällen sind die Grundrechte im Laufe der Jahrzehnte zum Teil ganz wesentlich Eingeschränkt worden, wenn sie nicht (wie das Beispiel Asylrecht zeigt) von Anfang an ungenügend gewesen sind.

Es sind nicht nur die Menschen- und Bürgerrechte – auch sonst gibt es viele Punkte, die mir zumindest Diskussionswürdig erscheinen. Etwa die Trennung von Staat und Kirche. Viele fordern sie heute vollmundig, ohne darüber nachzudenken, dass die Kirchen in Deutschland nach unserer Verfassung im Rang von öffentlich-rechtlichen Körperschaften stehen. Ob Religionsunterricht, ob Kirchensteuer – sogar der Sonntag als gesetzlicher Feiertag ist Teil unserer Verfassung, und obwohl ich als Katholik den Kirchen sicher nicht übertrieben kritisch gegenüber stehe, wäre mir ein “gib dem Kaiser was des Kaisers ist und Gott was Gottes ist” persönlich lieber:

Artikel 7 (3) Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt.

Artikel 137 …Die Religionsgesellschaften bleiben Körperschaften des öffentlichen Rechtes, soweit sie solche bisher waren. Anderen Religionsgesellschaften sind auf ihren Antrag gleiche Rechte zu gewähren, wenn sie durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten. Schließen sich mehrere derartige öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften zu einem Verbande zusammen, so ist auch dieser Verband eine öffentlich-rechtliche Körperschaft.
Die Religionsgesellschaften, welche Körperschaften des öffentlichen Rechtes sind, sind berechtigt, auf Grund der bürgerlichen Steuerlisten nach Maßgabe der landesrechtlichen Bestimmungen Steuern zu erheben.

Artikel 139 Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt.

Also: es ist nett, Grundgesetze zu verschenken. Die Leute, die ihr Exemplar verschmissen haben, das sie (wie jeder in diesem Land) in der Schule bekommen hatten – oder zu faul sind, sich eines kostenlos bei der Bundeszentrale für politische Bildung zu bestellen, die werden sich freuen. Aber programmatisch: bitte! Da bin ich eher beim Wahlkampf 2009:

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Sharing is Caring

Kultur ist auch immer eine Sprache, mit denen sehr tiefgehende empathische Werte vermittelt werden und zwar über Gesellschaft, Kultur und Sprache hinausgehend, es ist die Sprache der Welt, die jeder Mensch versteht. Das baut Barrieren ab und verbindet die Menschen, es erlaubt unmittelbar mit Menschen überall auf der Welt in Kontakt zu treten. Dies verarmt und es ist ein großer Verlust, wenn die Menschen sich nicht mehr verstehen in ihren Gefühlen. „Und sie kennen die Worte nicht mehr…“ Elfriede Jelinek.

sagt Johannes Thon in seinem lesenswerten Interview mit der Rheinpost.

Kultur kommt von kultivieren: dem Ackerbau und der Gartenpflege. Kultur pflegt das Zusammenleben von Menschen in Gemeinschaften. Unsere Kultiviertheit macht es uns möglich, dass wir trotz großer Unterschiede in der Regel pfleglich mit einander umgehen. Kultur schafft einen gemeinsamen Gedanken- und Gefühlsraum, schafft Identität über Nicht-Identisches.

Eine gemeinsame Kultur lebt vom Austausch. Austausch bedeutet, die Symbole der Gemeinsamkeit zu taschen. Dies können Bilder, Gedichte oder Lieder und Musikstücke sein. Dieses Tauschen von Kultur bedeutet: ich gebe etwas, ich bekomme etwas in gleicher Art. Wir erleben dieses Geben und Nehmen täglich auf Twitter – jeder gibt, was er findet und empfindet und bekommt von den anderen deren Erzählungen zurück.

Kultur als Ware steht zu diesem freien Austausch genau gegenüber. Die Kultur verliert die Funktion des Verbindenden und wird zum Statussymbol, zu etwas, dass ich mir leisten können muss. Kultur wird nicht mehr geteilt, sondern produziert; passend spricht man auch von der Kulturindustrie. Kultur dient jetzt nicht mehr, um Gemeinsamkeit herzustellen, sondern zur Abgrenzung. Wir erleben die grotesken Auswüchse der ökonomisierung von Kultur, wenn von Kindern für das Singen von Liedern plötzlich Gebühren zu zahlen sind.

Kultur als Grundlage für Empathie ist, was Johannes Thon uns in seinem Interview beschreibt. Sharing is caring – gehen wir wieder pfleglicher miteinander um!

Weiterlesen:
Die Kulturindustrie
Memetic Turn

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Als ich ein Kind war, tat ich wie ein Kind.

2012-04-29 10:08:53
GO-Antrag auf Meinungsbild: Ob die Orga- und Versammlungsleitung für die gute Arbeit einen Gutenmorgenflausch verdient hat.
2012-04-29 10:09:14
Versammlungsleiter: Ich möchte der Versammlung mitteilen, dass der Orga und der Versammlungsleitung vor lauter Flausch ein Fell wächst.
Protokoll zum 1. Bundesparteitag der Piratenpartei 2012

Ein Erwachsener ist mündig, das heißt, er spricht für sich selbst, tritt für sich ein, übernimmt Verantwortung. Aber nach einiger Zeit tritt Ernüchterung ein – man erkennt, dass man doch nicht alles schaffen kann, was man sich erträumt hatte. Erwachsene gehen zur Arbeit, auf Twitter klagen sie, wenn es Montag ist – sie sind müde, weil sie Sonntag Abend nach dem Tatort auch noch den langweiligen Polit-Talk im Fernsehen angeschaut haben.

Und Politik muss offenbar genauso langweilig und nüchtern ablaufen, wie der typische Sonntag Abend, sonst ist sie nicht erwachsen, sondern infantil. “Wer glaubt, dass aus der Piratenpartei eine Inspiration oder Erneuerung der Parteiendemokratie erwüchse, muss mit dem Klammerbeutel gepudert sein.” schreibt die Welt; der Vorwurf: die Piratenpartei sei ein infantiler Haufen. Gerade das Kindische scheint für manchen das Bedrohliche an den Piraten. “Manche Ideen sind kindisch (Hochschulabschluss für alle), manche hanebüchen (weg mit geistigem Eigentum!)” ereifert sich das Handelsblatt entsprechend.

Ich glaube, diese Beobachtung ist richtig. Es gibt heute sehr viele “Erwachsene”, die sich unwohl im Bierernst der Erwachsenenkultur fühlen.

Kinder zerlegen Dinge in ihre Einzelteile. In einem bestimmten Alter stellen Kinder solange die Frage “Warum?” bis selbst der erfahrenste Dialektiker keine Antwort mehr kennt. Ich baue gerne mit Lego. Deshalb mag ich Minecraft und habe für die Firma einen 3-D-Drucker angeschafft. Ich kenne viele Leute in meinem Alter, denen es ähnlich geht. Programmieren hat für mich viel Ähnlichkeit mit dieser kindlichen Freude an analysieren und wieder aufbauen.

Kinder spielen gerne mit ihrer Identität. Von Erwachsenen erwartet man, dass sie nur noch eine Rolle spielen; erwachsenes Verhalten muss konsistent bleiben; es geht um Wiedererkennbarkeit und Berechenbarkeit. Auf der anderen Seite gibt es viele Menschen, die den Wunsch haben, ihre Identität selbst zu bestimmen und gegebenenfalls auch zu ändern. Das beginnt mit Autonymität – sich seinen Namen selbst geben zu dürfen. Aber letztlich geht es darum, uns selbst zu formen, wie den Avatar unserer Netz-Identität. Dieser Wunsch wird von den Ernüchterten als Kinderei abgetan oder sogar für gefährlich gehalten.

How can children grow up in a world in which adults idolize youthfulness? McLuhan

Der faszinierende Widerspruch zwischen den infantilen Erwachsenen und dem ansonsten herrschenden Kult der Jugendlichkeit ist, dass es uns nicht darum geht, das körperliche Altern zu leugnen. Das Kindliche ist etwas völlig anderes, als Jugendlichkeit.

Auch auf diesem Bundesparteitag der Piraten haben sich wieder lauter Leute auf Vorstandsämter beworben, die so gar nicht politisch geschliffen wirken. Der Versammlungsleiter ist mit einem Prinzessinen-Diadem im ZDF zu sehen und mittelalte Männer vertreiben Kinder aus dem Bällebad.

Vielleicht ist infantile Politik sogar das stärkste Versprechen, dass die Piratenpartei den Wählern macht. Das Wählerpotenzial, das von dieser politischen Kultur angesprochen wird, ist riesig – ich denke, es geht um mehr als 30 Prozent.

Ich hoffe, dass diese infantile politische Kultur sich weiter durchsetzt, damit auch die politische Geschäftsführung anderer Parteien auf übellaunige, bösartige Presseanfragen mit ROFLCOPTER GTFO antworten können.

Weiterlesen:
Die Lebensalter
Declaration of Liquid Culture

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Declaration of Liquid Culture

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[English Translation]

Präambel: Die Geschichte ist nicht zu Ende – sie verflüssigt sich.

Wenn wir in einem Boot auf dem Fluss fahren, erkennen wir unsere eigene Bewegung am vorbeiziehenden Ufer. Dass immer wieder neue Uferabschnitte vor uns auftauchen, während wir andere, an denen wir gerade vorübergefahren sind, hinter uns lassen, empfinden wir als Fortschritt. Je breiter der Fluss, desto weniger können wir unsere eigene Bewegung bemerken – bis wir auf dem freien Meer unser Bezugssystem, an dem wir Fortschritt festmachen, ganz verloren haben.

Enge Ufer geben unserer Bewegung eine eindeutige Richtung und eine klare Orientierung, weite Ufer geben uns Bewegungsfreiheit.

In diesem Moment fahren wir auf einem Fluss, dessen Ufer immer weiter werden. Wir können sie zwar noch erkennen, aber es ist eher die Erinnerung daran, dass wir sie vor kurzem noch nahe vor Augen hatten, die uns das Gefühl von Bewegung nach vorne vermittelt. Die Moderne verschwindet. Die Postmoderne sind die letzten, offenen Marschwiesen. Jammern wir nicht alten Ufern nach, die vorbeigezogen sind. Freuen wir uns auf die offene See.

Declaration of Liquid Culture

Liquid Democracy: “Sprich mit uns, sprich nicht für uns”

Wir fassen Menschen nicht zu Mengen zusammen, um sie dann durch ein typisches Exemplar repräsentieren zu lassen. Wir brauchen keine Zielgruppen mehr, kein Gender, keine ethnische Herkunft, um Menschen als einzelne für sich sprechen zu lassen. Strukturen der Repräsentation – auch wenn sie als “Volk”, als “Staatenbund”, als “Parteien” weiter bestehen – bedeuten uns nichts mehr.

Unsere Demokratie ist flüssig geworden. Aktives und passives Wahlrecht werden deckungsgleich. Jeder tritt für sich selbst ein und auf. Jeder spricht mit gleicher Stimme, aber das nicht nur, um seine Vertreter zu wählen, sondern um direkt mitzugestalten.

Liquid Identity: Wir sind viele

Unsere Identität lässt sich nicht mehr in eine starre Form pressen. Der willkürliche Name, den wir geerbt haben, steht neben unseren wahren Namen, die wir uns selbst geben. Unsere Nicknames, Handles und Avatare sind Teil unserer körperlichen Manifestation – wie unsere Frisur oder Kleidung.

Liquid Economy: Sharing is Caring

Teilen ist das neue Haben. Güter sind nicht nur zum Besitzen da, sondern zum Teilen, Tauschen, Weiterschenken und gemeinsam Nutzen. Konsum ist kein Selbstzweck. Wir sind Millionen, bald Milliarden, die vernetzt die Welt gestalten. Wir verteilen unsere Kraft und unsere Güter mit den neuen Werkzeugen, die wir in Händen haben: Wikipedia, Github, Makerbots, Wikis, Pads und unzählige weitere Gemeinschafts-Plattformen. Wir zeigen unsere Fähigkeiten und sind bereit, sie zu teilen. Wir arbeiten, weil wir es wollen und wo wir es wollen. Wir arbeiten gerne mit anderen zusammen – auch wenn nicht immer am selben Projekt. Was uns wichtig ist, bezahlen wir. Wir spenden, wir beteiligen uns mit Geld oder mit unserer Arbeitsleistung. Wir verwalten nicht, wir handeln. Was uns fehlt, das gründen wir.

Liquid Science: Was ist Wahrheit?

Die Welt ist, was der Fall ist und nicht, worauf wir uns verständigen, dass sie zu sein hat. Es gibt keinen Kompromiss. Wenn wir keinen Konsens finden, was wir für wahr halten, dann bleiben wir besser uneins. Die Meinung der Mehrheit hat keinen Anspruch auf Wahrheit. Gleichzeitig steht alles Wissen in Frage. Kein Konsens ist festgeschrieben. Nur wenn unser Konsens das Beharren und Provozieren der Trolle übersteht, ist er stabil genug, die wirklichen Herausforderungen zu bestehen.

Unser Wissen fließt. Alles, was wir über die Welt wissen, ist im stetigen Fluss. Wir passen unsere Modelle der sich verändernden Welt an – und nicht die Welt unseren Modellen. Wie sich unsere Timeline ständig erneuert, so fließen neue Daten in unser Wissen und verändern unsere Modelle von der Welt.
Ununterbrochen sind wir damit beschäftigt, die unterschiedlichen Schläuche, durch die unsere Daten zu uns fließen, zusammenzuführen, die Ströme zu vermischen und weiterzuleiten. Manchmal wird ein Schlauch brüchig. Bevor er platzt, lassen wir ihn fallen und nehmen seine Daten aus unserem System.

Liquid Art: Der Einzige und sein geistiges Eigenthum.

Code is poetry. Unsere Kunstwerke heißen Twitter, Instagram, Youtube oder Github. Dort ist jeder frei, seine Werke öffentlich zu machen. Jedes Werk wird von denen gefunden werden, die danach suchen. Unsere Künstler sind die Entwickler, die durch ihre kreative Arbeit diese Freiräume schaffen, unsere Ateliers sind die Coworking- und Hackerspaces, unsere Galeristen und Sammler sind die Venture Capitalists, die den Kreativen die Arbeit finanzieren und sie bei Erfolg groß machen.

Wer mag noch von sich behaupten: “Siehe, dies ist mein Werk”? Die Zeit ist vorbei, in der Werkzeug und Bildung definierte, wer ein Künstler ist und wer nicht. Die Hochkultur ist so tot wie das Latein des 13. Jahrhunderts. Man spricht es noch, aber es hat seine Bedeutung verloren. Stattdessen blühen die Volkssprachen. Diese Volkssprachen definieren die Kultur. Wunderbare Werke werden aus dem Vorhandenen geschaffen. Originalität bedeutet, den richtigen Remix finden.

Die Rolle des Kreativen als Schöpfer seines Werkes löst sich auf. In Liquid Authorship ist ein Werk nie abgeschlossen – das Werk ist in Bewegung, es wird genährt von allen, die es schaffen, aufgreifen, verbreiten und weiterentwickeln. Das fließende Werk hat keinen Anfang und kein Ende, es lebt weiter. Es ist eine gesellschaftliche Wertschöpfung. Kultur ist keine Ware, sondern ein Prozess.

Kultur ist unser Kult. Die Symbole unseres Kultes sind nicht religiös. Es sind die Zeichen, die wir teilen, um uns miteinander zu verbinden. Der Hash-Tag ist uns das Pentagramm der Alchimisten und Katzenbilder sind uns der Fisch der frühen Christen in den Katakomben. Aber wer hat das Recht, uns den Zugang zu unserer Kultur zu verbieten? Wer hat das Recht, uns zu sagen, wie wir unsere Symbole zu tauschen haben? Es ist unser Kult. Nur wir selbst haben alles Recht daran.

Liquid Dataism: Nousphere

Wir erweitern unseren Körper. Räder sind uns schnelle Füße, Kleidung ist eine zweite Haut. Auch unsere Sinne erweitern wir: die Augen mit Teleskop und Mikroskop, die Nase mit Chromatographen, die Ohren mit Lautsprechern. Und schließlich unsere Nerven und unser Gehirn – durch das Netz. Wie unsere Körper sich im Raum bewegen, so auch unsere Daten im Netz. Das Netz spannt uns neue Dimensionen auf, in denen wir leben. Unsere Daten sind unser Leib im Internet.

Agnoscit Praesentem. Die Sterne am Himmel – sie geben uns Halt, das Schiff auf der uferlosen See zu steuern.

Santa Clara, Ca. / Bonn, 2012
Jörg Blumtritt, Benedikt Köhler, Sabria David

 

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Piratenpartei

There must be a beginning of any great matter, but the continuing unto the end until it be thoroughly finished yields the true glory.Francis Drake

Ich bin froh, dass ich Mitglied der Piratenpartei bin. Wenn ich es nicht schon wäre, würde ich heute eintreten. Das ist mir beim Lesen des Handelsblattes klar geworden, wie schon lange nicht mehr.

“Mein Kopf gehört mir” – unter diesem Titel geben hundert “Schriftsteller, Sänger, Künstler, Werber, Softwareentwickler und Unternehmer” im Handelsblatt ihre Gründe an, warum sie glauben, dass die Piratenpartei ihr Gegner sei, uns zwar wegen der “Umsonstkultur im Internet”.

Goethe als Abziehbild vorne drauf. Der Titel, der sich auf “Mein Bauch gehört mir” bezieht, ist ein ekelergegendes Spiel, mit dem die Not und die ethischen Konflikte von Frauen vor einer Abtreibung ins Lächerliche gezogen werden. Ich möchte gar nicht weiter auf diesen menschenverachtenden Zynismus eingehen, aber er spricht Bände über den verkommenen Seelenzustand der Verfasser dieses Textes. Dabei kenne ich nicht wenige der hundert Leute persönlich, die da im Handelsblatt gegen die Piratenpartei polemisieren, mit einigen hatte ich auch geschäftlich zu tun.

Ich arbeite seit fünfzehen Jahren für die Werbewirtschaft und die privaten Medien – und zwar überzeugt. Umso trauriger macht es mich, dass meine Branche offenbar so wenig anpassungsfähig ist. Schade, dass weder Google, noch Facebook, weder Twitter noch Spotify, weder Instagr.am noch git.hub von einem Medienunternehmen erfunden wurden. Aber das sind die Orte, an denen heute unsere Kultur geschöpft wird, die ‘Kostenloskultur’, wie sie von den Angestellten und Krämern der Kulturindustrie geschmäht wird.

Ich halte mich für einen politischen Menschen. Und ich hatte es dennoch nie geschafft, mich in einer politischen Partei zu engagieren. Die Parteien, wie sie waren, empfand ich als eng und wenig durchlässig.

Durch das repräsentative System findet dort politsche Arbeit praktisch nur per Delegation statt, über Kreis- und Bundesdelegierte, per Vertretung durch Referenten, durch Experten in der Parteizentrale. Und auf Parteitagen stimmen dann die Kreisdelegierten über die vorbereiteten Entwürfe ab.

Politik hat für die bestehenden Parteien offenbar auch das ausschließliche Ziel, an die Regierungsmacht zu gelangen – Koalitionen werden um jeden Preis geschlossen, die innersten Werte der Parteien auf dem Altar der Macht geopfert. Seit der Regierung Schröder sind die Grünen daher für mich unwählbar geworden.

Und schließlich: die Programme der bestehenden Parteien spiegeln meine Lebenswirklichkeit nicht wieder. Die Dinge die mir wichtig sind, finde ich dort nicht. Im Gegenteil – meine Kultur wird offenbar als Bedrohung empfunden, was ich als meine Bürgerrechte sehe, ist für die andern nur “Rechtsfreier Raum”, der natürlich genauso zusammengestutzt werden muss, wie die spießigen Vorgärten, für die mein Land weltweit berühmt ist. Gartenzwergkultur.

Was mich an der politischen Theorie der Piratenpartei fasziniert, habe ich oft gepostet. Seit einigen Monaten möchte ich erleben, wie daraus Praxis wird.

Ich möchte unserer Gesellschaft helfen, die anstehenden Veränderungen ohne große Schäden zu überstehen. Und ich habe auch die Hoffnung für meine Branche noch nicht verloren, die Medien und Werbung.

Deshalb habe ich mich entschlossen, dem Kommando “Klarmachen zum ändern” zu folgen.
Deshalb bin ich Mitglied in der Piratenpartei.

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Wahre Namen

Lewis Carroll

Alice was walking beside the White Knight in Looking Glass Land.”You are sad.” the Knight said in an anxious tone: “let me sing you a song to comfort you.”

“Is it very long?” Alice asked, for she had heard a good deal of poetry that day.

“It’s long.” said the Knight, “but it’s very, very beautiful. Everybody that hears me sing it – either it brings tears to their eyes, or else -”

“Or else what?” said Alice, for the Knight had made a sudden pause.

“Or else it doesn’t, you know. The name of the song is called ‘Haddocks’ Eyes.'”

“Oh, that’s the name of the song, is it?” Alice said, trying to feel interested.

“No, you don’t understand,” the Knight said, looking a little vexed. “That’s what the name is called. The name really is ‘The Aged, Aged Man.'”

“Then I ought to have said ‘That’s what the song is called’?” Alice corrected herself.

“No you oughtn’t: that’s another thing. The song is called ‘Ways and Means’ but that’s only what it’s called, you know!”

“Well, what is the song then?” said Alice, who was by this time completely bewildered.

“I was coming to that,” the Knight said. “The song really is ‘A-sitting On a Gate’: and the tune’s my own invention.”
Lewis Carroll, Through the Looking-Glass

Cusanus

Unum igitur verum nomen cuiusque imparticipabile atque, uti est, ineffabile esse necesse est.
Nikolaus von Kues, De coniecturis, 101.

Wittgenstein

Die Gegenstände kann ich nur nennen. Zeichen vertreten sie. Ich kann nur von ihnen sprechen, sie aussprechen kann ich nicht. Ein Satz kann nur sagen, wie ein Ding ist, nicht was es ist. (3.221)
Der Name bedeutet den Gegenstand. Der Gegenstand ist seine Bedeutung. (3.203)
Der Satz besitzt wesentliche und zufällige Züge. Zufällig sind die Züge, die von der besonderen Art der Hervorbringung des Satzzeichens herrühren. Wesentlich diejenigen, welche allein den Satz befähigen, seinen Sinn auszudrücken.(3.34) Der eigentliche Name ist das, was alle Symbole, die den Gegenstand bezeichnen, gemeinsam haben. Es würde sich so successive ergeben, dass keinerlei Zusammensetzung für den Namen wesentlich ist. (3.3411) Ein Name steht für ein Ding, ein anderer für ein anderes Ding und untereinander sind sie verbunden, so stellt das Ganze – wie ein lebendes Bild – den Sachverhalt vor. (4.0311) Können wir zwei Namen verstehen, ohne zu wissen, ob sie dasselbe Ding oder zwei verschiedene Dinge bezeichnen? – Können wir einen Satz, worin zwei Namen vorkommen, verstehen, ohne zu wissen, ob sie Dasselbe oder Verschiedenes bedeuten?
Kenne ich etwa die Bedeutung eines englischen und eines gleichbedeutenden deutschen Wortes, so ist es unmöglich, dass ich nicht weiß, dass die beiden gleichbedeutend sind; es ist unmöglich, dass ich sie nicht ineinander übersetzen kann. (4.243)
Ludwig Wittgenstein, Tractatus

My Heart and Lute

I give thee all -I can no more-
Tho’ poor the offering be;
My heart and lute are all the store
That I can bring to thee.
A lute whose gentle song reveals
The soul of love full well;
And, better far, a heart that feels
Much more than lute could tell.

Tho’ love and song may fail, alas!
To keep life’s clouds away,
At least ’twill make them lighter pass,
Or gild them if they stay.
And even if Care at moments flings
A discord o’er life’s happy strain,
Let Love but gently touch the strings,
‘Twill all be sweet again!
Thomas Moore

… und was das mit Liquid Democracy zu tun hat:
“Frei, gleich – geheim?”

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Die technologische Gesellschaft und ihre Feinde


The most human thing about us is our technology. (McLuhan)

Gestern bin ich an der Fabrik von Tesla Motors in Freemont, Ca. vorbeigefahren. Tesla ist nicht nur deswegen ein bemerkenswertes Unternehmen, weil sie sozusagen aus dem Stand heraus marktfähige Autos mit Elektroantrieb herausgebracht haben. Bemerkenswert finde ich, dass die Gründer nicht aus dem Auto-Business, Maschinenbau oder Elektrotechnik kommen, sondern, dass es Gründer von erfolgreichen IT-Startups in Silicon Valley sind, die ihre Erfahrung mit dem ‘Erschüttern von Märkten’ jetzt auf eine der traditionellsten Branchen richten, die doch scheinbar so gar nichts mit Software oder dem Web zu tun hat. (Die Tesla-Story steht sehr schön zu lesen in dem Wired-Artikel von 2010).

Der direkte Energieverbrauch unserer Maschinen und Apparate verlagert sich immer mehr auf die Elektrizität und direkte Krafterzeugung durch Verbrennung von Öl oder Kohle wird immer weniger wichtig werden – davon bin ich überzeugt. Selbstverständlich muss der elektrische Strom ebenfalls erzeugt werden, er ist also nur Transportmedium für die Energie, es bleibt derselbe Strom, egal wie er erzeugt wird.

Durch Elektroantriebe wird Energieerzeugung vom Energieverbrauch entkoppelt. Man kann sich bei der Erzeugung darum kümmern, dass diese unschädlich für das Klima erfolgt und politischen Rahmenbedingungen genügt, die ausschließlich die Erzeugung betreffen, ohne gleichzeitig vorzuschreiben, was die Verbraucher der Energie damit machen.

Und dann lese ich diesen Aufmacher in der TAZ von neulich:

“Ein Ausbau der Elektroflotte auf eine Million Fahrzeuge bis zum Jahr 2022 führe, so das Öko-Institut, zwar zu einer Reduktion der Treibhausgasemissionen im Verkehrsbereich um 6 Prozent, mit effizienteren Benzinmotoren ließen sich aber 25 Prozent einsparen. Die Anbieter von Elektroautos kümmern sich bisher kaum darum, dass der Ökostrommarkt um den Anteil wachsen muss, den ihre Fahrzeuge künftig verbrauchen.”

Zu gut deutsch: es ist besser, am alten Zustand herumzufrickeln, noch ein wenig mehr Effizienz herauszuholen, bevor man – OMG! – eine neue Technologie als Alternative aufbaut.

Ich will an dieser Stelle gar nicht in das Für und Wider von Elektroautos einsteigen, darüber sprechen, warum es vielleicht doch nicht so dumm ist, wie gesagt, das CO2-Problem von der Mobilität abzukoppeln, den Energieverbrauch durch elektrischen Strom von der Energieerzeugung zu trennen.

Es geht mir um die grundsätzliche Technologiefeindlichkeit, die ich aus dieser Ablehung lese. Neue Technologie ist immer zuerst zu kritisieren. Sie muss sich “erstmal behaupten”, muss bewiesen haben, dass sie auch wirklich besser ist, als das Alte – ansonsten ist sie doch bitteschön abzulehnen. Es ist gar von der “Elektrolüge” die Rede, so als hätte irgendwer behauptet, Elektroautos verbrauchten keine Energie. In der Unterstellung der Lüge wird eine geheime Agenda angedeutet, die – ja wer eigentlich? – verfolgt, um – ja was eigentlich? – damit durchzusetzen.

Ich glaube, dass diese grundsätzliche Technologiefeindlichkeit, die vielen Menschen in Deutschland tief in den Knochen zu sitzen scheint, in Wahrheit eine Furcht vor Veränderung ist, dass hier derselbe Abwehrmechanismus in Gang kommt, der viele Menschen zu jenen Internet-Skeptikern macht, die hinter jeder Website nur Viren und Kreditkartenbetrüger vermuten, der Menschen fordern lässt, Überwachungskameras aufzuhängen und Websperren einzuführen. Es ist die Angst davor, dass die scheinbar ewigen Wahrheiten nicht mehr gelten – und das Benz-Automobil mit Otto- oder Dieselmotor ist für sehr viele Menschen hier eine Ikone, die allegorisch für die Stabilität der deutschen Gesellschaft an sich steht.

Ich erlebe in dieser Diskussionen um Elektroautos wieder diesen Bruch durch die Gesellschaft gehen, der viel mehr ist, als nur eine digitale Kluft. Es ist das Gefühl, dass viele Menschen, die ich für intelligent, kultiviert und gebildet halte, meine Ansichten nicht teilen und zwar ganz grundlegend, ideologisch. Und denen all mein Reden und meine (wie ich finde überzeugenden) Argumente ins Leere laufen.

Und dieses Gefühl haben offenbar viele andere ebenfalls. Es ist die Überzeugung, dass die Technologie ein so wesentlicher, zentraler Teil unserer Kultur ist, dass ein Deutsches Museum gleichwertig neben einer Alten Pinakothek steht und das Erlernen von Computersprachen ebenso wichtig wie das von Fremdsprachen ist.

Die gesellschaftlichen Strukturen im Netz liefern Modelle für diese neue Kultur, die man deshalb wohl auch als Netzkultur oder Digitalkultur etikettiert.
Nicht zuletzt deshalb reagieren so viele Menschen empfindlich, wenn in dieses Modell des Neuen plötzlich durch Leistungsschutzrechte, ACTA, SOPA etc. in seiner Entwicklung abgedämpft werden soll.

Hier im süden San Franciscos, im Zentrum der Nerd-Welt, wo sich alles um diese neue Lebensweise zu drehen scheint, wirkt die Welt jenseits der digitalen Spalte unendlich fern und entrückt. Aber lassen wir uns durch unsere Filter-Bubble nicht selbst betrügen – es ist ein langer Weg, die Kluft zu schließen und wieder einen Konsens herzustellen. Vielleicht wird es auch gar nicht gelingen – wir haben schließlich keinen DAEMON, der uns dazu zwingt.

Weiter lesen:
Alles fließt
Die digitale Kluft
Suarez, Cline, Stephenson: die Welt nach der Implosion

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Frei, gleich – geheim?

Toutes les élections se font au scrutin secret.
(Constitution du 5 fructidor an III)

Als mit dem Direktorat 1795 die Zeit des Terreur der Französischen Revolution zu Ende ging, wurde in die Verfassung auch erstmals verfügt, dass “alle Wahlen in geheimer Abstimmung zu erfolgen haben”. Das Wahlgeheimnis war geboren und etablierte sich in den folgenden hundert Jahren zu einem Merkmal, das für Demokratien nicht wegzudenken ist. Ja, es ist geradezu kennzeichnend für Diktaturen, dass sie ihre Schein-Wahlen ohne verpflichtendes Wahlgeheimnis durchführen.

Jedes Mal, wenn als ich Beisitzer im Wahllokal mitgearbeitet habe, mussten wir Männer zum Teil mit Gewalt davon abhalten mussten, mit ihren Frauen gemeinsam zu wählen. “Wir machen doch alles gemeinsam, wir haben keine Geheimnisse” – aber das Wahlrecht ist eindeutig, und solche Stimmabgabe ist nicht zulässig.

Mit der US-Präsidentschaftswahl 2008 hat sich das Wahlgeheimnis grundlegend verändert: massenhaft twitterten die Wähler aus der Wahlkabine Bilder ihrer ausgefüllten Stimmzettel – eine politische Demonstration und Aufforderung an die noch unentschlossenen, ebenfalls ihre Stimme für den dringend erhofften Wandel abzugeben. Ab jetzt war klar: das Wahlgeheimnis würde sich in Zukunft nur noch sehr schwer durchsetzen lassen, denn wie sollten Wahlbeisitzer verhindern, dass die Wähler ihr Telefon in die Kabine mitnehmen? (Eine Leibesvisitation wäre schließlich kaum verhältnismäßig).

Geheim ist ohnehin nur das aktive Wahlreicht – wer sich wählen lassen möchte, muss schließlich bekannt sein. – Jedenfalls nach unserer traditionellen Vorstellung von Identität, die von Geburt bis Tod mit einem standesamtlich festgelegten Namen untrennbar verbunden ist.

Aber wieso sollte es nicht möglich sein, unter Pseudonym als Kandidat anzutreten? Es gibt schließlich sogar einen sehr prominenten Fall eines solchen Pseudonyms: Willy Brandt, der als Herbert Frahm geboren, im Laufe seines Engagements gegen den Nationalsozialismus und Faschismus mehrere Pseudonyme annahm.

In einer konsequent direkten Demokratie, wie sie beispielhaft das Liquid Feedback System der Piratenpartei umsetzt, ist jeder zugleich berechtigt abzustimmen, aber auch selbst Anträge zu stellen, die idealer Weise auf breiterer Basis vorher in einem Wiki oder Pad kollaborativ erarbeitet wurden. Damit löst sich die Grenze zwischen aktivem und passivem Wahlreicht auf – je nach eigenem Engagement kann ein “Wähler” ganz passiv bleiben und nur abstimmen oder aber sehr aktiv versuchen, seine eigenen Anträge durchzusetzen. Selbstverständlich kann die Entscheidung, ob jemand nur abstimmen oder auch selbst an Anträgen mitarbeiten möchte nicht vorab getroffen werden – es muss schließlich möglich sein, zunächst zu beobachten und allmälich in den Prozess hineinzukommen. Allerdings wird eine politische Debatte um einen Antrag fast unmöglich, wenn die Beteiligten nicht ein Mindestmaß an Konstanz in ihrer Identität wahren können. Nur wenn ich weiß, mit wem ich rede, kann ich mich klar auseinandersetzen. Konsens verlangt nach Autentizität und Identität.

Wie also umgehen, mit dem berechtigten Wunsch nach geheimer Wahl und der Notwendigkeit zu einer wiedererkennbaren Identität im Liquid Democracy Prozess?

Die Antwort scheinen mir Autonyme zu sein. Das Autonym ist eine Form des Handle oder Avatar (siehe dazu http://fluchderrepublik.blogspot.com). Es spricht nichts dagegen, sich selbst eine Identität zu geben und vor die “behördlich verifizierte” Identität des Personalausweises zu stellen. Damit es nicht zu Missbrauch kommt, sich Leute reine Troll-Identitäten zulegen, muss es ein Reputationssystem geben, mit dem konstante Beteiligung belohnt wird. Und selbstverständlich gibt es in solch einem System immer nur ein Autonym pro Person zur selben Zeit – sonst könnte schließlich jeder mehrfach abstimmen. (zum Thema Troll-Politik siehe “Wikipedia ist mehr als eine Enzyklopädie”)

Die scharfe Kritik an der willkürlichen Namenspraxis von Google+ hat gezeigt, wie wichtig in unserer Kultur die Autonyme geworden sind. Es sind nicht Schein-Identitäten, sondern es sind ganz reale Zeichen für die Personen/Persönlichkeiten dahinter. Über die Jahre sind diese für mich viel aussagekräftiger, als die “Klarnamen”, genau wie der Name Willy Brandt auch nach dem 2. Weltkrieg für den Politiker steht und sein Geburtsname für uns heute völlig bedeutungslos geworden ist.

Liquid Democracy sollte nicht hinter die Kultur zurückfallen, die wir uns in Jahren im Netz aufgebaut haben – eine Kultur der selbstbestimmten Identität.

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Im Detail

Folgenden Text von Gustav Landauer werde ich weitgehend vollständig zitieren. Ich denke, dass er am besten für sich spricht.

Es ist für mich ein starkes Plädoyer:

  • für ein bedingungsloses Grundeinkommen
  • für flüssige Biografien anstelle von festgelegten Berufen
  • für Netzkultur, die Menschen verbindet und auf alle möglichen Bedürfnisse das passende Angebot zur Lösung liefert
  • für Netzkultur als kritisches Korrektiv, das verhindert, dass nur noch Unsinn produziert wird

Gustav Landauer “Anarchismus im Détail”
(Berlin, 1893)

Ich bin überzeugt, dass […] die Freiheit der beste Regulator ist. Es gibt nicht eine Buchbindergruppe [stellvertretend für eine beliebige Berufsgruppe; dies bringt Landauer in Gegensatz zum Staatsmonopolkapitalismus oder zur strikten Kollektivwirtschaft – jb], sondern jedenfalls eine große Zahl, und eine Konkurrenz zwischen diesen – im guten Sinne – findet unter allen Umständen statt, auch wenn es nicht materielles, sondern ein geistiges Streben ist, was die Einen veranlasst, den Anderen überflügeln zu wollen. Der Gedanke, dass Fachkenntnis, die auf einen bestimmten Kreis von Menschen beschränkt ist, eine Art ausschließliches Privateigentum mit sich bringe, ist nicht richtig: Denn bei der allgemeinen Erziehung, die wir erstreben und die ganz sicher ohne Volksschulzwang oder dergleichen Bahn brechen wird, sowie alle Schranken gefallen sind, wird es jedem jeder Zeit ziemlich leicht fallen, sich dem Arbeitszweig zuzuwenden, der ihm gerade zusagt. Ich sage ausdrücklich “Arbeitszweig”, aber nicht “Beruf”, denn ich glaube nicht, dass es in einer freien und vernünftigen Gesellschaft den Beruf in dem heutigen Sinne noch geben wird. Heute lernt einer ein Handwerk, damit er dasselbe sein ganzes Leben betreibt und davon lebt, aber schon jetzt, je mehr die Maschine an die Stelle des Menschen tritt, desto leichter kann einer aus dem einen Handwerk in das andere übergehen. Das wird in einem viel höheren Maße in Zukunft der Fall sein, wo der Mensch mehr Technik lernen wird, als Griechisch und Lateinisch.

Ich möchte aber die Aufmerksamkeit der Leser noch auf eine ganz besonders wichtige Art der Privataufträge lenken, nämlich auf Aufträge, die von Seiten derer, die sich künstlerisch und wissenschaftliche betätigen, erteilt werden. Wir streifen damit überhaupt die Frage der geistigen Arbeit, die in einem Gegensatz gestellt wird zu produktiver Arbeit. Der Einwand, dass es in einer freien Gesellschaft viele Faulenzer geben wird, soll hier nicht berührt werden. Aber wird es nicht viele geben, die zu arbeiten glauben, ohne dass es wirklich der Fall ist? Wird es nicht gerade wie heute auf geistigem Gebiet eine Unzahl Dilettanten gehen, die die geistig sich abmühen, ohne dass ihre Mitmenschen einen Genuss davon haben? Nun, ich befürchte das nicht. Es wird in einer zukünftigen Gesellschaft viel mehr, als es heute der Fall ist, öffentliche Kritik geben, und es wird auch viel mehr Selbstkritik geben. Ich bin optimistisch genug zu glauben, dass jeder Mensch, wenn die Schranken gefallen sind, einen Beruf im vernünftigen Sinne des Wortes haben wird, in dem er zu irgend etwas, sei es bedeutend oder nicht, wegen seiner individuellen Anlagen besonders berufen sein wird; darin wird er sein Genügen finden und wird nicht so verrückt sein, etwas tun, etwas tun zu wollen, was er nicht kann unter Vernachlässigung dessen, was er gerade als Individuum besonders trefflich kann. Es wird nichts mehr verloren gehen in einer freien Gesellschaft; alle Kräfte werden in der Lage sein, sich umherzutreiben im Spiel der Wirksamkeit.

Um aber nicht vom Hundersten ins Tausendste zu kommen: Wie werden die Erzeugnisse der geistigen Arbeiter zum Publikum kommen? Ein Dichter hat ein Werk vollendet, und er wünscht nun, dass es gelesen werde; wie wird es gedruckt und verbreitet werden? Ich warne wiederum davor, und auch manche Anarchisten warne ich zu sagen: Es wird alles gedruckt werden, ohne Prüfung, ohne Unterschied. Das heißt nichts anderes, als dass über der anarchistischen, der gesetzlosen Gesellschaft, das Gesetz schwebe: Es muss alles in Druck befördert werden. Andere werden vorziehen zu sagen: Die Sachverständigen werden darüber entscheiden. Wer ist sachverständig und wer nicht? Und sollen diese Sachverständigen etwa vom Volk gewählt werden? Dann entscheiden ja doch die Nichtsachverständigen, nämlich die Wähler. Nun wird man mich fragen: Ja, wenn Du das alles nicht willst, dann musst Du der Ansicht sein, dass die Drucker darüber entscheiden sollen, was zu verbreiten ist; und wäre das eine gerechte Entscheidung? Aber eben nicht die Drucker haben zu entscheiden, weil es ‘Drucker’ in diesem einseitigen Sinne nicht mehr gibt. Es gibt nur Menschen, die zu setzen und zu drucken verstehen – neben manchem anderen, dass sie auch noch vermögen. Der Dichter muss sich einfach Menschen suchen, die nach ganz freier Erwägung willens sind, sein Werk zu drucken, und ebenso der Komponist Musiker, die sein Musikwerk aufführen wollen. Die Menschen in einer freien Gesellschaft werden eben nicht mehr wie wilde Tiere einander gegenüberstehen; die Menschen werden sich suchen, und die Menschen werden sich auch finden. Nicht bloß weil sie aufeinander angewiesen sind, weil sie sich brauchen; sondern die Liebe wird herrschen unter den Menschen; und nicht mehr als Moralgebot wird die Liebe gefordert werden; sondern die Liebe wird etwas Selbstverständliches sein, von dem zu reden niemand mehr für nötig erachten wird.

Ich würde mich freuen, wenn diesder Betrachtung die Mitarbeiter und Leser zu einer Diskussion über diese und angrenzende Fragen anregen würden.

(Zitiert nach Gustav Landauer, Ausgewählte Schriften. Band 2, Anarchismus.)