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Wahre Namen

Lewis Carroll

Alice was walking beside the White Knight in Looking Glass Land.”You are sad.” the Knight said in an anxious tone: “let me sing you a song to comfort you.”

“Is it very long?” Alice asked, for she had heard a good deal of poetry that day.

“It’s long.” said the Knight, “but it’s very, very beautiful. Everybody that hears me sing it – either it brings tears to their eyes, or else -”

“Or else what?” said Alice, for the Knight had made a sudden pause.

“Or else it doesn’t, you know. The name of the song is called ‘Haddocks’ Eyes.'”

“Oh, that’s the name of the song, is it?” Alice said, trying to feel interested.

“No, you don’t understand,” the Knight said, looking a little vexed. “That’s what the name is called. The name really is ‘The Aged, Aged Man.'”

“Then I ought to have said ‘That’s what the song is called’?” Alice corrected herself.

“No you oughtn’t: that’s another thing. The song is called ‘Ways and Means’ but that’s only what it’s called, you know!”

“Well, what is the song then?” said Alice, who was by this time completely bewildered.

“I was coming to that,” the Knight said. “The song really is ‘A-sitting On a Gate’: and the tune’s my own invention.”
Lewis Carroll, Through the Looking-Glass

Cusanus

Unum igitur verum nomen cuiusque imparticipabile atque, uti est, ineffabile esse necesse est.
Nikolaus von Kues, De coniecturis, 101.

Wittgenstein

Die Gegenstände kann ich nur nennen. Zeichen vertreten sie. Ich kann nur von ihnen sprechen, sie aussprechen kann ich nicht. Ein Satz kann nur sagen, wie ein Ding ist, nicht was es ist. (3.221)
Der Name bedeutet den Gegenstand. Der Gegenstand ist seine Bedeutung. (3.203)
Der Satz besitzt wesentliche und zufällige Züge. Zufällig sind die Züge, die von der besonderen Art der Hervorbringung des Satzzeichens herrühren. Wesentlich diejenigen, welche allein den Satz befähigen, seinen Sinn auszudrücken.(3.34) Der eigentliche Name ist das, was alle Symbole, die den Gegenstand bezeichnen, gemeinsam haben. Es würde sich so successive ergeben, dass keinerlei Zusammensetzung für den Namen wesentlich ist. (3.3411) Ein Name steht für ein Ding, ein anderer für ein anderes Ding und untereinander sind sie verbunden, so stellt das Ganze – wie ein lebendes Bild – den Sachverhalt vor. (4.0311) Können wir zwei Namen verstehen, ohne zu wissen, ob sie dasselbe Ding oder zwei verschiedene Dinge bezeichnen? – Können wir einen Satz, worin zwei Namen vorkommen, verstehen, ohne zu wissen, ob sie Dasselbe oder Verschiedenes bedeuten?
Kenne ich etwa die Bedeutung eines englischen und eines gleichbedeutenden deutschen Wortes, so ist es unmöglich, dass ich nicht weiß, dass die beiden gleichbedeutend sind; es ist unmöglich, dass ich sie nicht ineinander übersetzen kann. (4.243)
Ludwig Wittgenstein, Tractatus

My Heart and Lute

I give thee all -I can no more-
Tho’ poor the offering be;
My heart and lute are all the store
That I can bring to thee.
A lute whose gentle song reveals
The soul of love full well;
And, better far, a heart that feels
Much more than lute could tell.

Tho’ love and song may fail, alas!
To keep life’s clouds away,
At least ’twill make them lighter pass,
Or gild them if they stay.
And even if Care at moments flings
A discord o’er life’s happy strain,
Let Love but gently touch the strings,
‘Twill all be sweet again!
Thomas Moore

… und was das mit Liquid Democracy zu tun hat:
“Frei, gleich – geheim?”

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Die technologische Gesellschaft und ihre Feinde


The most human thing about us is our technology. (McLuhan)

Gestern bin ich an der Fabrik von Tesla Motors in Freemont, Ca. vorbeigefahren. Tesla ist nicht nur deswegen ein bemerkenswertes Unternehmen, weil sie sozusagen aus dem Stand heraus marktfähige Autos mit Elektroantrieb herausgebracht haben. Bemerkenswert finde ich, dass die Gründer nicht aus dem Auto-Business, Maschinenbau oder Elektrotechnik kommen, sondern, dass es Gründer von erfolgreichen IT-Startups in Silicon Valley sind, die ihre Erfahrung mit dem ‘Erschüttern von Märkten’ jetzt auf eine der traditionellsten Branchen richten, die doch scheinbar so gar nichts mit Software oder dem Web zu tun hat. (Die Tesla-Story steht sehr schön zu lesen in dem Wired-Artikel von 2010).

Der direkte Energieverbrauch unserer Maschinen und Apparate verlagert sich immer mehr auf die Elektrizität und direkte Krafterzeugung durch Verbrennung von Öl oder Kohle wird immer weniger wichtig werden – davon bin ich überzeugt. Selbstverständlich muss der elektrische Strom ebenfalls erzeugt werden, er ist also nur Transportmedium für die Energie, es bleibt derselbe Strom, egal wie er erzeugt wird.

Durch Elektroantriebe wird Energieerzeugung vom Energieverbrauch entkoppelt. Man kann sich bei der Erzeugung darum kümmern, dass diese unschädlich für das Klima erfolgt und politischen Rahmenbedingungen genügt, die ausschließlich die Erzeugung betreffen, ohne gleichzeitig vorzuschreiben, was die Verbraucher der Energie damit machen.

Und dann lese ich diesen Aufmacher in der TAZ von neulich:

“Ein Ausbau der Elektroflotte auf eine Million Fahrzeuge bis zum Jahr 2022 führe, so das Öko-Institut, zwar zu einer Reduktion der Treibhausgasemissionen im Verkehrsbereich um 6 Prozent, mit effizienteren Benzinmotoren ließen sich aber 25 Prozent einsparen. Die Anbieter von Elektroautos kümmern sich bisher kaum darum, dass der Ökostrommarkt um den Anteil wachsen muss, den ihre Fahrzeuge künftig verbrauchen.”

Zu gut deutsch: es ist besser, am alten Zustand herumzufrickeln, noch ein wenig mehr Effizienz herauszuholen, bevor man – OMG! – eine neue Technologie als Alternative aufbaut.

Ich will an dieser Stelle gar nicht in das Für und Wider von Elektroautos einsteigen, darüber sprechen, warum es vielleicht doch nicht so dumm ist, wie gesagt, das CO2-Problem von der Mobilität abzukoppeln, den Energieverbrauch durch elektrischen Strom von der Energieerzeugung zu trennen.

Es geht mir um die grundsätzliche Technologiefeindlichkeit, die ich aus dieser Ablehung lese. Neue Technologie ist immer zuerst zu kritisieren. Sie muss sich “erstmal behaupten”, muss bewiesen haben, dass sie auch wirklich besser ist, als das Alte – ansonsten ist sie doch bitteschön abzulehnen. Es ist gar von der “Elektrolüge” die Rede, so als hätte irgendwer behauptet, Elektroautos verbrauchten keine Energie. In der Unterstellung der Lüge wird eine geheime Agenda angedeutet, die – ja wer eigentlich? – verfolgt, um – ja was eigentlich? – damit durchzusetzen.

Ich glaube, dass diese grundsätzliche Technologiefeindlichkeit, die vielen Menschen in Deutschland tief in den Knochen zu sitzen scheint, in Wahrheit eine Furcht vor Veränderung ist, dass hier derselbe Abwehrmechanismus in Gang kommt, der viele Menschen zu jenen Internet-Skeptikern macht, die hinter jeder Website nur Viren und Kreditkartenbetrüger vermuten, der Menschen fordern lässt, Überwachungskameras aufzuhängen und Websperren einzuführen. Es ist die Angst davor, dass die scheinbar ewigen Wahrheiten nicht mehr gelten – und das Benz-Automobil mit Otto- oder Dieselmotor ist für sehr viele Menschen hier eine Ikone, die allegorisch für die Stabilität der deutschen Gesellschaft an sich steht.

Ich erlebe in dieser Diskussionen um Elektroautos wieder diesen Bruch durch die Gesellschaft gehen, der viel mehr ist, als nur eine digitale Kluft. Es ist das Gefühl, dass viele Menschen, die ich für intelligent, kultiviert und gebildet halte, meine Ansichten nicht teilen und zwar ganz grundlegend, ideologisch. Und denen all mein Reden und meine (wie ich finde überzeugenden) Argumente ins Leere laufen.

Und dieses Gefühl haben offenbar viele andere ebenfalls. Es ist die Überzeugung, dass die Technologie ein so wesentlicher, zentraler Teil unserer Kultur ist, dass ein Deutsches Museum gleichwertig neben einer Alten Pinakothek steht und das Erlernen von Computersprachen ebenso wichtig wie das von Fremdsprachen ist.

Die gesellschaftlichen Strukturen im Netz liefern Modelle für diese neue Kultur, die man deshalb wohl auch als Netzkultur oder Digitalkultur etikettiert.
Nicht zuletzt deshalb reagieren so viele Menschen empfindlich, wenn in dieses Modell des Neuen plötzlich durch Leistungsschutzrechte, ACTA, SOPA etc. in seiner Entwicklung abgedämpft werden soll.

Hier im süden San Franciscos, im Zentrum der Nerd-Welt, wo sich alles um diese neue Lebensweise zu drehen scheint, wirkt die Welt jenseits der digitalen Spalte unendlich fern und entrückt. Aber lassen wir uns durch unsere Filter-Bubble nicht selbst betrügen – es ist ein langer Weg, die Kluft zu schließen und wieder einen Konsens herzustellen. Vielleicht wird es auch gar nicht gelingen – wir haben schließlich keinen DAEMON, der uns dazu zwingt.

Weiter lesen:
Alles fließt
Die digitale Kluft
Suarez, Cline, Stephenson: die Welt nach der Implosion

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Frei, gleich – geheim?

Toutes les élections se font au scrutin secret.
(Constitution du 5 fructidor an III)

Als mit dem Direktorat 1795 die Zeit des Terreur der Französischen Revolution zu Ende ging, wurde in die Verfassung auch erstmals verfügt, dass “alle Wahlen in geheimer Abstimmung zu erfolgen haben”. Das Wahlgeheimnis war geboren und etablierte sich in den folgenden hundert Jahren zu einem Merkmal, das für Demokratien nicht wegzudenken ist. Ja, es ist geradezu kennzeichnend für Diktaturen, dass sie ihre Schein-Wahlen ohne verpflichtendes Wahlgeheimnis durchführen.

Jedes Mal, wenn als ich Beisitzer im Wahllokal mitgearbeitet habe, mussten wir Männer zum Teil mit Gewalt davon abhalten mussten, mit ihren Frauen gemeinsam zu wählen. “Wir machen doch alles gemeinsam, wir haben keine Geheimnisse” – aber das Wahlrecht ist eindeutig, und solche Stimmabgabe ist nicht zulässig.

Mit der US-Präsidentschaftswahl 2008 hat sich das Wahlgeheimnis grundlegend verändert: massenhaft twitterten die Wähler aus der Wahlkabine Bilder ihrer ausgefüllten Stimmzettel – eine politische Demonstration und Aufforderung an die noch unentschlossenen, ebenfalls ihre Stimme für den dringend erhofften Wandel abzugeben. Ab jetzt war klar: das Wahlgeheimnis würde sich in Zukunft nur noch sehr schwer durchsetzen lassen, denn wie sollten Wahlbeisitzer verhindern, dass die Wähler ihr Telefon in die Kabine mitnehmen? (Eine Leibesvisitation wäre schließlich kaum verhältnismäßig).

Geheim ist ohnehin nur das aktive Wahlreicht – wer sich wählen lassen möchte, muss schließlich bekannt sein. – Jedenfalls nach unserer traditionellen Vorstellung von Identität, die von Geburt bis Tod mit einem standesamtlich festgelegten Namen untrennbar verbunden ist.

Aber wieso sollte es nicht möglich sein, unter Pseudonym als Kandidat anzutreten? Es gibt schließlich sogar einen sehr prominenten Fall eines solchen Pseudonyms: Willy Brandt, der als Herbert Frahm geboren, im Laufe seines Engagements gegen den Nationalsozialismus und Faschismus mehrere Pseudonyme annahm.

In einer konsequent direkten Demokratie, wie sie beispielhaft das Liquid Feedback System der Piratenpartei umsetzt, ist jeder zugleich berechtigt abzustimmen, aber auch selbst Anträge zu stellen, die idealer Weise auf breiterer Basis vorher in einem Wiki oder Pad kollaborativ erarbeitet wurden. Damit löst sich die Grenze zwischen aktivem und passivem Wahlreicht auf – je nach eigenem Engagement kann ein “Wähler” ganz passiv bleiben und nur abstimmen oder aber sehr aktiv versuchen, seine eigenen Anträge durchzusetzen. Selbstverständlich kann die Entscheidung, ob jemand nur abstimmen oder auch selbst an Anträgen mitarbeiten möchte nicht vorab getroffen werden – es muss schließlich möglich sein, zunächst zu beobachten und allmälich in den Prozess hineinzukommen. Allerdings wird eine politische Debatte um einen Antrag fast unmöglich, wenn die Beteiligten nicht ein Mindestmaß an Konstanz in ihrer Identität wahren können. Nur wenn ich weiß, mit wem ich rede, kann ich mich klar auseinandersetzen. Konsens verlangt nach Autentizität und Identität.

Wie also umgehen, mit dem berechtigten Wunsch nach geheimer Wahl und der Notwendigkeit zu einer wiedererkennbaren Identität im Liquid Democracy Prozess?

Die Antwort scheinen mir Autonyme zu sein. Das Autonym ist eine Form des Handle oder Avatar (siehe dazu http://fluchderrepublik.blogspot.com). Es spricht nichts dagegen, sich selbst eine Identität zu geben und vor die “behördlich verifizierte” Identität des Personalausweises zu stellen. Damit es nicht zu Missbrauch kommt, sich Leute reine Troll-Identitäten zulegen, muss es ein Reputationssystem geben, mit dem konstante Beteiligung belohnt wird. Und selbstverständlich gibt es in solch einem System immer nur ein Autonym pro Person zur selben Zeit – sonst könnte schließlich jeder mehrfach abstimmen. (zum Thema Troll-Politik siehe “Wikipedia ist mehr als eine Enzyklopädie”)

Die scharfe Kritik an der willkürlichen Namenspraxis von Google+ hat gezeigt, wie wichtig in unserer Kultur die Autonyme geworden sind. Es sind nicht Schein-Identitäten, sondern es sind ganz reale Zeichen für die Personen/Persönlichkeiten dahinter. Über die Jahre sind diese für mich viel aussagekräftiger, als die “Klarnamen”, genau wie der Name Willy Brandt auch nach dem 2. Weltkrieg für den Politiker steht und sein Geburtsname für uns heute völlig bedeutungslos geworden ist.

Liquid Democracy sollte nicht hinter die Kultur zurückfallen, die wir uns in Jahren im Netz aufgebaut haben – eine Kultur der selbstbestimmten Identität.

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Im Detail

Folgenden Text von Gustav Landauer werde ich weitgehend vollständig zitieren. Ich denke, dass er am besten für sich spricht.

Es ist für mich ein starkes Plädoyer:

  • für ein bedingungsloses Grundeinkommen
  • für flüssige Biografien anstelle von festgelegten Berufen
  • für Netzkultur, die Menschen verbindet und auf alle möglichen Bedürfnisse das passende Angebot zur Lösung liefert
  • für Netzkultur als kritisches Korrektiv, das verhindert, dass nur noch Unsinn produziert wird

Gustav Landauer “Anarchismus im Détail”
(Berlin, 1893)

Ich bin überzeugt, dass […] die Freiheit der beste Regulator ist. Es gibt nicht eine Buchbindergruppe [stellvertretend für eine beliebige Berufsgruppe; dies bringt Landauer in Gegensatz zum Staatsmonopolkapitalismus oder zur strikten Kollektivwirtschaft – jb], sondern jedenfalls eine große Zahl, und eine Konkurrenz zwischen diesen – im guten Sinne – findet unter allen Umständen statt, auch wenn es nicht materielles, sondern ein geistiges Streben ist, was die Einen veranlasst, den Anderen überflügeln zu wollen. Der Gedanke, dass Fachkenntnis, die auf einen bestimmten Kreis von Menschen beschränkt ist, eine Art ausschließliches Privateigentum mit sich bringe, ist nicht richtig: Denn bei der allgemeinen Erziehung, die wir erstreben und die ganz sicher ohne Volksschulzwang oder dergleichen Bahn brechen wird, sowie alle Schranken gefallen sind, wird es jedem jeder Zeit ziemlich leicht fallen, sich dem Arbeitszweig zuzuwenden, der ihm gerade zusagt. Ich sage ausdrücklich “Arbeitszweig”, aber nicht “Beruf”, denn ich glaube nicht, dass es in einer freien und vernünftigen Gesellschaft den Beruf in dem heutigen Sinne noch geben wird. Heute lernt einer ein Handwerk, damit er dasselbe sein ganzes Leben betreibt und davon lebt, aber schon jetzt, je mehr die Maschine an die Stelle des Menschen tritt, desto leichter kann einer aus dem einen Handwerk in das andere übergehen. Das wird in einem viel höheren Maße in Zukunft der Fall sein, wo der Mensch mehr Technik lernen wird, als Griechisch und Lateinisch.

Ich möchte aber die Aufmerksamkeit der Leser noch auf eine ganz besonders wichtige Art der Privataufträge lenken, nämlich auf Aufträge, die von Seiten derer, die sich künstlerisch und wissenschaftliche betätigen, erteilt werden. Wir streifen damit überhaupt die Frage der geistigen Arbeit, die in einem Gegensatz gestellt wird zu produktiver Arbeit. Der Einwand, dass es in einer freien Gesellschaft viele Faulenzer geben wird, soll hier nicht berührt werden. Aber wird es nicht viele geben, die zu arbeiten glauben, ohne dass es wirklich der Fall ist? Wird es nicht gerade wie heute auf geistigem Gebiet eine Unzahl Dilettanten gehen, die die geistig sich abmühen, ohne dass ihre Mitmenschen einen Genuss davon haben? Nun, ich befürchte das nicht. Es wird in einer zukünftigen Gesellschaft viel mehr, als es heute der Fall ist, öffentliche Kritik geben, und es wird auch viel mehr Selbstkritik geben. Ich bin optimistisch genug zu glauben, dass jeder Mensch, wenn die Schranken gefallen sind, einen Beruf im vernünftigen Sinne des Wortes haben wird, in dem er zu irgend etwas, sei es bedeutend oder nicht, wegen seiner individuellen Anlagen besonders berufen sein wird; darin wird er sein Genügen finden und wird nicht so verrückt sein, etwas tun, etwas tun zu wollen, was er nicht kann unter Vernachlässigung dessen, was er gerade als Individuum besonders trefflich kann. Es wird nichts mehr verloren gehen in einer freien Gesellschaft; alle Kräfte werden in der Lage sein, sich umherzutreiben im Spiel der Wirksamkeit.

Um aber nicht vom Hundersten ins Tausendste zu kommen: Wie werden die Erzeugnisse der geistigen Arbeiter zum Publikum kommen? Ein Dichter hat ein Werk vollendet, und er wünscht nun, dass es gelesen werde; wie wird es gedruckt und verbreitet werden? Ich warne wiederum davor, und auch manche Anarchisten warne ich zu sagen: Es wird alles gedruckt werden, ohne Prüfung, ohne Unterschied. Das heißt nichts anderes, als dass über der anarchistischen, der gesetzlosen Gesellschaft, das Gesetz schwebe: Es muss alles in Druck befördert werden. Andere werden vorziehen zu sagen: Die Sachverständigen werden darüber entscheiden. Wer ist sachverständig und wer nicht? Und sollen diese Sachverständigen etwa vom Volk gewählt werden? Dann entscheiden ja doch die Nichtsachverständigen, nämlich die Wähler. Nun wird man mich fragen: Ja, wenn Du das alles nicht willst, dann musst Du der Ansicht sein, dass die Drucker darüber entscheiden sollen, was zu verbreiten ist; und wäre das eine gerechte Entscheidung? Aber eben nicht die Drucker haben zu entscheiden, weil es ‘Drucker’ in diesem einseitigen Sinne nicht mehr gibt. Es gibt nur Menschen, die zu setzen und zu drucken verstehen – neben manchem anderen, dass sie auch noch vermögen. Der Dichter muss sich einfach Menschen suchen, die nach ganz freier Erwägung willens sind, sein Werk zu drucken, und ebenso der Komponist Musiker, die sein Musikwerk aufführen wollen. Die Menschen in einer freien Gesellschaft werden eben nicht mehr wie wilde Tiere einander gegenüberstehen; die Menschen werden sich suchen, und die Menschen werden sich auch finden. Nicht bloß weil sie aufeinander angewiesen sind, weil sie sich brauchen; sondern die Liebe wird herrschen unter den Menschen; und nicht mehr als Moralgebot wird die Liebe gefordert werden; sondern die Liebe wird etwas Selbstverständliches sein, von dem zu reden niemand mehr für nötig erachten wird.

Ich würde mich freuen, wenn diesder Betrachtung die Mitarbeiter und Leser zu einer Diskussion über diese und angrenzende Fragen anregen würden.

(Zitiert nach Gustav Landauer, Ausgewählte Schriften. Band 2, Anarchismus.)

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Alles fließt.

“mehr als verdoppelt. SUPER, zittern fuer rot-gruen. Wenn es nicht klappt haben es linken- und piratenwaehler vermasselt.” (Volker Beck)

“Was hat es mit den Parteien, dass sie sich aufführen, wie Fußballmannschaften, die gegen einander gewinnen wollen? (Medien auch so.)” (Marina Weisband)

“Wobei die Umstellung auf fließende Themenbündnisse ein gewaltiger Schritt innerhalb der bestehenden Parteiendemokratie wäre” (Boris Turovskiy)

Heute haben in ganz Deutschland mehr als hunderttausend Menschen gegen ACTA, das “Anti-Counterfeiting Trade Agreement” demonstriert. Für die Vertreter der etablierten Parteien scheint die Auflehnung so vieler der Bürger gegen die sogennante “Netzpolitik” wie ein Schock und in dieser Form völlig unerwartet gekommen zu sein. Meine Timeline ist voll von Zitaten, die dies nahelegen.

Jetzt geht der Politik endgültig der Arsch auf Grundeis. #acta #digitaleöffentlichkeit (@holadiho)

Das glaube ich auch. Und ich bin teile die Einschätzung von Till Westermayer über seine Partei, wenn er seufzt:

Und die Frage, was wir – Grüne, als “etablierte” Partei – diesen politisierten Jugendlichem anbieten können. Anders gesagt: fühle mich alt.

Ich will gar nicht anfangen zu lamentieren, wie sich die Grünen aus ihrer reflexhaften Technologiefeindlichkeit befreien könnten. “Programmcodes und Algorithmen, die Basis des digitalen Fortschritts” – schon beim Versuch, den Beschluss der Bundesdelegiertenversammlung “Offenheit, Freiheit, Teilhabe” vom November 2011 bleibe ich vor lauter postmodernem Kopfschütteln in den Phrasen stecken.

Auch mein stärker werdendes Gefühl von Opportunismus bei den Grünen, bei Netz-Themen einfach schnell noch aufzuspringen, möchte ich hier nicht vertiefen, auch wenn eine Grüne Landesregierung, die keinerlei Bedenken gegen den Einsatz von Trojanern hegt, den ACTA-Aktionen der Grünen zumindest ein Fragezeichen mitgeben. Zu den Grünen und ihrem Umgang mit den “Kindern der digitalen Revolution” empfehle ich Till Westermayers Post.

Demmokratie – darum geht es.

Dass es bei “Netzpolitik” oder “Digitalkultur” (was auch immer das eigentlich sein soll) einen Konflikt zwischen “etablierten” und “nicht-etablierten” gibt, ist nur ein Symptom für eine wesentlich tiefer gehende Unzufriedenheit.

Politische Arbeit in unserer repräsentativen Demokratie scheint sich nämlich irgendwie kaum vom Engagement in irgendwelchen anderen Vereinen zu unterscheiden. Statt sich der Themen anzunehmen, ist es zunächst wichtig, zu gewinnen, und zwar die jeweilige Wahl. Danach muss das Parteiprogramm und am Ende auch noch ein Koalitionsvertrag durchgehalten werden, da sich aus Sicht der Wähler nur an der Programmtreue messen lässt, ob die Partei auch tatsächlich das präsentiert, für was ich sie mit meiner Stimme zur Repräsentation beauftragt habe. Wenn die etablierten Parteien mehr “direkter Demokratie” fordern, so meinen sie damit in der Regel höchstens Volksabstimmung über vorgelegte Gesetzesentwürfe.

Die Willensbildung der Piratenpartei unterscheidet sich davon radikal. Jeder, auch ein Parteifremder, kann Vorschläge einbringen, die vollkommen offen diskutiert werden. Abstimmung, welcher Antrag angenommen werden soll, findet ebenfalls ohne Repräsentation direkt statt. Im System der Liquid Democracy werden also Menschen nicht zusammengefasst durch einen Vertreter repräsentiert, sondern jeder präsentiert sich selbst bzw. delegiert seine Stimme an einen anderen Wahlberechtigten, dem er das Urteil zutraut. Dieses Delegieren ist gilt fallweise und nicht pauschal; derjenige, dem ich meine Stimme übertrage, vertritt mich nicht dauerhaft.

Völlig logisch, dass auch in der parlamentarischen Arbeit keine Parteidisziplin oder kein Fraktionszwang durchzuhalten ist, sondern dass die Abgeordneten fallweise mal dem einen mal dem anderen Zustimmen werden, nicht aber aus der Raison eines Koalitionsvertrages, sondern ausschließlich nach dem Auftrag der Basis.

Ganz in diesem Sinne steht auch die Forderung, die Christoph Lauer im Berliner Abgeordnetenhaus gestellt hat: Schluss mit den Referentenentwürfen. Gesetze, die in der Verwaltung vorbereitet und im Parlament nur noch zur Abstimmung vorgelegt werden, sind selbstverständlich so ziemlich das Gegenteil von Liquid Democracy.

Und da ich nicht glaube, dass die etablierten Parteien diesen Schritt zu einer nicht mehr ganz so repräsentativen Demokratie mitgehen können, wird es ihnen mit allen Versuchen, sich an die “Netzkultur” anzubiedern, vielleicht nicht gelingen, die wirklich Unzufriedenen wieder einzufangen – denn denen geht es um weit mehr, als um kostenlose Downloads.

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Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. IX

“Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einizige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradise her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.”
(Walter Benjamin, 1892-1940).

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Politik als Co-Creation

Jeder kennt das: man kauft ein Produkt und sofort fällt einem auf, was daran nicht so ganz 100% gut ist – oft Kleinigkeiten, bei denen man denkt: es wäre doch so einfach zu beheben! Problem: die Firma wird es in der Regel nie erfahren. Man könnte anrufen oder schreiben – aber in der Regel ist die Produktion schon so festgelegt – die Maschinen eingerichtet, die Werkstoffe eingekauft, dass kurzfristig selbst gravierende Schwächen nicht mehr auszugleichen sind.

Wie bekommt man das verteilte Wissen der Kunden ins Unternehmen? Und zwar rechtzeitig, schon bei der Entwicklung eines neuen Produkts? In vergangenen Zeiten hätte man Marktforschung gemacht. Man hätte sich einen Fragebogen ausgedacht, den potenziellen Kunden einen “Prototypen” gezeigt oder eine Gruppendiskussion geführt. Aber die Teilnehmer an der Forschung wären immer nur zufällig ausgewählt gewesen, irgendwelche Leute. Alternativ hätte man Berater oder Experten beauftragt, ein Gutachten zu erstellen, ob das neue Produkt tatsächlich den erwarteten Erfolg zeigen würde.

Co-Creation geht einen anderen Weg. Man beginnt mit einer sorgfälltigen Recherche im Netz, vor allem in Foren und anderen Social Media, welche Gespräche vielleicht schon über das betreffende Thema geführt werden. Dabei lernt man bereits viel über den “Stand der Technik” – aber vor allem: man findet wirkliche Experten, Menschen, die sich leidenschaftlich und vielleicht schon lange mit den Themen auseinandersetzen. Im nächsten Schritt schafft man eine Plattform, auf der die Menschen, die sich für das Thema interessieren, an der Entwicklung des neuen Produktes direkt beteiligen können. Experten oder Meinungsführer, die einem besonders wichtig sind, kann man explizit einladen, sich zu beteiligen. Statt also, wie früher, einen Prototypen im Labor zu entwickeln, dann Marktforschung zu machen und – mehr oder weniger auf gut Glück – das Produkt in den Markt zu werfen, hat man mit Co-Creation von anfang an die späteren Kunden an der Entwicklung beteiligt. Das Produkt entspricht genau ihren Bedürfnissen und alles mögliche Expertenwissen konnte in die Entwicklung einbezogen werden.

Klingt vielleicht Theoretisch? Viele der größten Unternehmen setzen seit Jahren Co-Creation zur Produktentwicklung ein.

Politik wird von Volksvertretern gemacht. Die sollen Entscheidungen treffen, die von Beamten in den Fach-Ministerien zusammen mit Experten aus Lobbygruppenn und Verbänden vorbereitet werden. Ob die Wähler mit der Entscheidung zufrieden sein werden, wird über Fragebögen erforscht. Diese Experten-Herrschaft, die Tatsache, dass die Abgeordneten eigentlich nur noch fertige Vorlagen abnicken, wird häufig kritisiert; zu recht! All das Wissen, all die Leidenschaft mit der sich viele Menschen mit den Themen auseinandersetzen, bleibt ungehört. Der Vorwurf, diese Experten-Politik sei zu weit von den Menschen entfernt, lässt sich nur schwer entkräften.

Warum also nicht Politik als Co-Creation betreiben? Die Einführung partizipativer Plattformen wie Adhocracy oder Liquid Feedback sind erste Schritte. Allerdings ist der Wissenstransfer in diesen Plattformen nicht das vorrangige Ziel, sondern die Unterstützung kollektiver Entscheidungsfindung. Warum also nicht den nächsten Schritt und auch das verteilte Expertenwissen der Menschen systematisch einbeziehen?

Die Hyve AG, spezialisiert auf co-Creation hat unlängst eine Abteilung ‘Open Government’ gegründet, die u.a. für die Bayerische Staatsregierung arbeitet. Jetzt sollte es darum gehen, kollektive Entscheidungsfindung und Co-Creation zusammenzufahren. Dann haben wir Politik 2.0.

Mehr zum Thema:

SPEAK WITH US NOT FOR US
Disrupt Politics!

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Höchste Zeit für verteilte Netze

I heard SOPA was going to break the internet so just did a *Save As* and put in on @dropbox. (seriously, get involved people)

Schnell noch ein Back-up für das Internet. Natürlich ist das ein absurder Vorschlag und – was brächte das schon? Das Netz besteht ja viel weniger aus den Inhalten als aus den Interaktionen und Verknüpfungen, aus der Kommunikation.

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Wikipedia ist mehr als eine Enzyklopädie

Wikipedia ist eine sehr nützliche Sache. Selbst hartnäckige Internet-Skeptiker sind in der Regel schnell von der Qualität und Inhaltsfülle überzeugt. Dabei ist der interessanteste Aspekt der Wikipedia für mich nicht, dass darin alles mögliche an Wissen gesammelt steht, sondern, wie es hineinkommt.

Jeder, der schonmal einen Artikel angelegt hat, weiß, wie es abläuft, etwas beizutragen. Du schreibst, und spätestens fünf Minuten später entbrennt eine heftige Diskussion, ob das überhaupt relevant genug für die Wikipedia sei. Oft zieht sich die “Löschdiskussion” über die vollen sieben Tage hin, die als Frist für eine Entscheidung gesetzt sind. Oft ist der Ton bis ans hysterische emotional und sogar beleidigend – auf beiden Seiten. Und dann: schließlich gibt es eine Lösung, einen zeitweiligen Konsens. Der Artikel bleibt oder wird gelöscht. Ist das Lemma, das Thema des Artikels grundsätzlich als relevant akzeptiert, läuft die Diskussion – meist weniger dramatisch – nochmals ab, wenn es darum geht, welche Aspekte zu einem Artikel gehören und welche nicht.

Ich habe oft über die schrecklichen Umgangsformen und die diskursive Dominanz einzelner auf Wikipedia geschimpft. Inzwischen bin ich überzeugt, dass es eine derartig starke Tendenz zur Selbstorganisation gibt, dass diese Probleme überwunden werden. Die Löschtrolle sorgen jedenfalls für ein “Survival of the fittest” – nur Artikel mit unbedingtem Überlebenswillen, werden ihre Meme an die nächste Generation vererben.

Es geht um Wahrheit. Es geht darum, was in der Gemeinschaft der Wikipedianer als Wahrheit akzeptiert wird. Wahrheit und nicht Meinung.

Damit ist Wikipedia ein interessantes Modell für eine neue Form Politik. Unter Politik verstehen wir heute das aushandeln von Kompromissen zwischen unterschiedlichen Meinungen. Bei Wikipedia geht es nicht um Kompromisse, sondern um Konsens. Es gibt kein “dealen” – kein “lässt du meinen Artikel stehen, lösch ich deinen auch nicht.” – Die Diskussionen bei Wikipedia sind deshalb so anstrengend, weil es sich um ein “Ringen um Wahrheit” handelt. (Bäh, dieser Jargon der Eigentlichkeit, aber hier passt er imo).

Politik als Wahrheitsprozess scheint uns nicht möglich. Wie sollten die vielen unterschiedlichen Meindungen der Wähler zu einem “Allgemeinen Willen” zusammengefasst werden, außer über Kompromisse? Aber vielleicht gab es bisher nur kein System, keine Struktur, in der eine Politik der Wahrheit möglich gewesen wäre.

Ich glaube, dass ein “politisches Wikipedia” gute Chancen hat, Politik neu zu erfinden. Deshalb glaube ich an den Erfolg von Liquid Democracy.

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“Keinen Beschluss”

Die Fraktion hat keinen Beschluss für oder gegen esoterisches Heilertum. Die Fraktion lehnt Germanische neue Medizin ab. (piratenfraktion-berlin.de)